Tag & Nacht




Am frühen Morgen des 16. September drangen israelische Bodentruppen mit massiver Artillerieunterstützung in das Zentrum von Gaza-Stadt vor. Es ist der bisher tiefste Vorstoß der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) in das urbane Herz des Gazastreifens seit Beginn des Krieges. Was von offizieller Seite als „entscheidende Phase“ im Kampf gegen die Hamas bezeichnet wird, entwickelt sich rasch zur dramatischsten Eskalation seit Beginn des Konflikts vor zwei Jahren – mit erheblichen humanitären, politischen und völkerrechtlichen Implikationen.

Die Offensive erfolgt in einem Moment wachsender internationaler Kritik und innenpolitischen Drucks. Familien von Geiseln protestieren gegen das militärische Vorgehen, das ihrer Ansicht nach das Leben ihrer Angehörigen gefährde. Gleichzeitig verschärft sich die humanitäre Lage im Gazastreifen in alarmierendem Tempo.

Das militärische Kalkül

Die israelische Regierung verfolgt nach eigenem Bekunden das Ziel, die militärischen Kapazitäten der Hamas im städtischen Raum zu zerschlagen und gleichzeitig verschleppte Geiseln zu befreien. Der operative Schwerpunkt liegt nun auf Gaza-Stadt – einem Gebiet, das aufgrund seiner dichten Bebauung, unterirdischen Tunnelsysteme und der engen Verflechtung ziviler und militärischer Infrastruktur als militärisch äußerst komplex gilt.

Die IDF operiert mit zwei Divisionen gleichzeitig und setzt auf die Kombination aus Bodenpräsenz und intensiver Luft- sowie Artillerieunterstützung. Damit nimmt Israel bewusst hohe Kollateralschäden in Kauf – ein Umstand, der international zunehmend kritisiert wird. Der Vorwurf lautet: Die militärischen Ziele seien nicht mehr verhältnismäßig gegenüber den zivilen Folgen.

Humanitäre Implosion

Mit der Offensive verschärft sich die ohnehin katastrophale Lage der Zivilbevölkerung. Bereits vor Beginn des Vorstoßes hatten über die Hälfte der Bewohner Gaza-Stadts ihre Wohnungen und Häuser verlassen – doch viele sind geblieben: aus Angst, wegen Krankheit oder weil es schlicht keine sicheren Orte mehr gibt. Die israelischen Aufrufe zur Evakuierung stoßen ins Leere, wenn sie in eine Realität hinein erfolgen, in der der Süden des Gazastreifens überfüllt, unterversorgt und zunehmend selbst zum Ziel militärischer Operationen geworden ist.

Die Versorgungslage ist inzwischen kritisch: Hilfslieferungen gelangen kaum noch in die nördlichen Gebiete, medizinische Einrichtungen sind überlastet oder zerstört, sauberes Trinkwasser und Nahrung werden zur Mangelware. Eine signifikante Zahl von Hungertoten ist bereits dokumentiert. Internationale Hilfsorganisationen warnen vor grausamen Folgen für Zivilisten.

Völkerrecht und moralische Legitimität

Die Offensive in Gaza-Stadt hat eine neue juristische Dimension erreicht: Erstmals seit Beginn des Konflikts werden von internationalen Gremien Vorwürfe laut, Israel könnte durch sein Vorgehen Tatbestände des Völkermords erfüllen. Dabei wird nicht nur auf die hohe Zahl ziviler Opfer verwiesen, sondern auch auf gezielte Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur und die Blockade humanitärer Hilfe.

Der israelischen Regierung wird vorgeworfen, mit öffentlichen Äußerungen hochrangiger Politiker zur Entmenschlichung der palästinensischen Bevölkerung beigetragen zu haben. Der Vorwurf des Genozids ist juristisch heikel und politisch explosiv – selbst wenn er nicht kurzfristig justiziabel wird, markiert er doch eine entscheidende Verschärfung der Debatte über die moralische und rechtliche Legitimität des israelischen Vorgehens.

Internationale Fronten

Die diplomatische Isolierung Israels nimmt zu. Während die USA weiterhin rhetorische Rückendeckung liefern, gerät Europa zunehmend unter Zugzwang. Einige Mitgliedstaaten der EU fordern offen Sanktionen, andere – darunter Deutschland – plädieren für eine zurückhaltendere Linie. Zugleich mehren sich innerhalb der europäischen Institutionen Stimmen, die Handels- und Rüstungsbeziehungen zu Israel überprüfen wollen.

Auch in den arabischen Nachbarstaaten wächst der Druck. Ägypten und Katar bemühen sich zwar um diplomatische Kanäle, sehen sich aber wachsendem Misstrauen ihrer eigenen Bevölkerung ausgesetzt. Die Gefahr einer regionalen Eskalation – etwa durch Angriffe auf den Libanon oder das Westjordanland – bleibt latent bestehen.

Das Dilemma der Geiseln

Ein zentrales Argument der israelischen Regierung für die Fortsetzung der militärischen Operationen ist die Befreiung von Geiseln, die sich seit dem Hamas-Überfall im Oktober 2023 in palästinensischer Hand befinden. Doch genau dieses Ziel steht im Zentrum der innenpolitischen Kontroverse: Angehörige der Entführten werfen der Regierung vor, durch ihre aggressive Militärstrategie das Leben der Geiseln aufs Spiel zu setzen.

Innerhalb des Militärs mehren sich kritische Stimmen, wonach das Risiko für eigene Soldaten sowie für Geiseln in komplexen urbanen Kämpfen nicht ausreichend in die Operationsplanung einbezogen werde. Das Vertrauen in die Strategie des Verteidigungsministeriums beginnt zu erodieren – ein Riss, der sich in der israelischen Öffentlichkeit immer deutlicher zeigt.

Perspektiven der Deeskalation

Die diplomatischen Bemühungen um eine Waffenruhe laufen weiterhin, vor allem über Katar, Ägypten und die USA. Doch das Zeitfenster für einen Durchbruch schließt sich rapide. Auf dem Schlachtfeld zementiert sich eine militärische Logik, die jeden Schritt zurück als Schwäche erscheinen lässt – sowohl für die israelische Regierung als auch für die Hamas.

Das Dilemma bleibt: Je weiter die Gewalt fortschreitet, desto unwahrscheinlicher wird eine politische Lösung. Gleichzeitig ist der Preis einer fortgesetzten militärischen Eskalation für die Zivilbevölkerung so hoch, dass sich die Frage nach Legitimität, Verhältnismäßigkeit und politischem Ziel mit wachsender Dringlichkeit stellt.

Inmitten von Zerstörung, Anklagen und Protesten steht der Gazakrieg nun an einem Scheideweg: zwischen militärischer Machtdemonstration und politischer Verantwortung – mit unabsehbaren Folgen für Israel, die Palästinenser und die internationale Ordnung.

Autor: Andreas M. Brucker

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