Mit der Ankündigung, am Rande der UN-Generalversammlung in New York einen palästinensischen Staat offiziell anzuerkennen, vollzieht Emmanuel Macron eine Zäsur in der französischen Nahostpolitik. Frankreich wird damit als erstes G7-Land diesen Schritt gehen – ein Signal, das weit über die unmittelbare Krisendiplomatie hinausweist. Der Entscheid folgt nicht nur außenpolitischen Erwägungen, sondern spiegelt ebenso innenpolitischen Druck und die Suche nach einer neuen Rolle Frankreichs auf der internationalen Bühne.
Eine Kehrtwende mit Anlauf
Lange hatte Macron eine vorsichtige Linie verfolgt. Noch im Mai 2024 hatte er betont, eine Anerkennung dürfe nicht aus „Emotion“ erfolgen, sondern müsse in einem „nützlichen Moment“ geschehen. Diese zurückhaltende Haltung unterschied sich von jener Spaniens, Irlands oder Norwegens, die sich bereits frühzeitig zu einem palästinensischen Staat bekannten. Doch der französische Präsident verschob seine Position schrittweise. Ein Interview im April nach einem Ägypten-Besuch markierte den Wendepunkt: Frankreich müsse in den kommenden Monaten zur Anerkennung schreiten.
Seither folgten intensive diplomatische Signale. Am 24. Juli kündigte Macron auf X (vormals Twitter) überraschend an, den Schritt im September bei den Vereinten Nationen vollziehen zu wollen – eine bewusste Inszenierung, die Frankreich in den Mittelpunkt der diplomatischen Aufmerksamkeit rückte.
Druckmittel gegenüber Israel
Die unmittelbare Begründung ist die Eskalation im Gazastreifen und die fortgesetzte israelische Siedlungspolitik im Westjordanland. Mit der Anerkennung will Paris Druck auf Premierminister Benjamin Netanjahu ausüben, die militärischen Operationen einzudämmen und humanitäre Korridore zu öffnen. Aus dem Umfeld des Élysée heißt es, man sei an einem „Punkt des beinahe irreversiblen Schadens“ angelangt.
Der Schritt ist zugleich ein Signal an die arabische Welt, dass Frankreich die Zweistaatenlösung nicht aufgegeben hat – ein Prinzip, das seit vier Jahrzehnten die Linie der französischen Diplomatie prägt. Damit positioniert sich Paris bewusst gegen die von Donald Trump und Netanjahu angedachten Konzepte einer faktischen Aufgabe palästinensischer Staatlichkeit.
Wiederbelebung der Palästinensischen Autonomiebehörde
Ein weiterer Beweggrund ist die Stärkung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die seit Jahren an Legitimität eingebüßt hat. Mahmoud Abbas versprach Macron in einem Schreiben vom Juni tiefgreifende Reformen, Neuwahlen binnen Jahresfrist unter internationaler Aufsicht und eine klare Distanzierung vom Hamas. Paris interpretiert dies als Ansatz, eine Alternative zum islamistischen Machtapparat in Gaza aufzubauen.
Die französische Regierung legt Wert darauf, dass künftig nur Akteure an Wahlen teilnehmen dürfen, die Israels Existenzrecht anerkennen und Gewalt ablehnen. Mit diesem Kurs will Macron verhindern, dass die Anerkennung als „Sieg des Terrorismus“ interpretiert wird – ein Vorwurf, den etwa der Conseil représentatif des institutions juives de France (Crif) bereits geäußert hat.
Frankreichs Streben nach internationalem Gewicht
Frankreich reiht sich mit seiner Entscheidung in eine Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten ein: 148 Länder erkennen Palästina inzwischen als Staat an. Doch im Kreis der westlichen Industrienationen war dieser Schritt bislang tabu. Als erstes G7-Land eröffnet Paris eine neue Dynamik. Belgien und Australien folgten umgehend, weitere europäische Länder wie Portugal und Luxemburg könnten sich anschließen.
Frankreich sucht damit nach einer Führungsrolle in einer von Blockaden geprägten Diplomatie. Im September votierten in New York 142 Staaten für eine Resolution, die die Hamas aufforderte, die Kontrolle in Gaza aufzugeben – eine Initiative, die maßgeblich von Frankreich und Saudi-Arabien eingebracht wurde. Der Élysée sieht darin einen diplomatischen Erfolg: erstmals sei es gelungen, Länder mit Nähe zur Hamas zu einer klaren Verurteilung des 7. Oktober zu bewegen.
Innenpolitische Dimensionen
Die Entscheidung ist aber auch ein innenpolitisches Signal. In Frankreich ist die öffentliche Meinung gespalten: Laut einer Ifop-Umfrage vom 18. September befürworten 29 Prozent eine sofortige Anerkennung, 38 Prozent wollen Bedingungen wie die Freilassung der Geiseln und die Entwaffnung der Hamas abwarten, ein Drittel ist grundsätzlich dagegen.
Für Macron ist die Anerkennung ein Versuch, das gesellschaftliche Klima zu befrieden. Die Erinnerung an den Terroranschlag auf die Pariser Konzerthalle Bataclan verleiht der Debatte über die Geiseln eine besondere Sensibilität. Gleichzeitig wächst in der muslimischen Bevölkerung das Gefühl, Frankreichs Politik sei zu israelfreundlich. Ein Bericht des Innenministeriums warnte im Juni vor einem „tiefen Unbehagen“, das islamistische Strömungen zu instrumentalisieren suchten.
Macrons Ziel ist es daher, außenpolitische Weichenstellungen mit der innenpolitischen Kohäsion zu verbinden. Die Anerkennung Palästinas soll nicht nur ein Signal an Jerusalem und Ramallah sein, sondern auch an die französische Gesellschaft: Paris will sich als Garant einer ausgewogenen, eigenständigen Nahostpolitik positionieren.
Am Ende verfolgt Macron drei miteinander verflochtene Ziele: den Versuch, den Nahostkonflikt zu deeskalieren, die Stärkung der Palästinensischen Autonomiebehörde als Gegenmodell zum Hamas – und die Rückgewinnung französischer Handlungsfähigkeit sowohl international als auch im eigenen Land. Ob dieser Balanceakt gelingt, hängt indes nicht nur von Paris ab, sondern von der Reaktion Israels, der arabischen Staaten und einer zunehmend polarisierter werdenden französischen Öffentlichkeit.
Autor: P. Tiko
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