Tag & Nacht




Sie schläft seit fast einem Jahrhundert, in majestätischer Stille über den grünen Hügeln der Karibikinsel Martinique. Doch seit einigen Wochen rumort es tief in ihrem Inneren: Die Montagne Pelée, einer der bekanntesten Vulkane der Welt, zeigt Anzeichen von neuem Leben.

Was wie ein fernes Grollen begann, ist inzwischen ein regelrechtes Zittern geworden.


Ein Vulkan mit tragischer Geschichte

Die Montagne Pelée thront über dem Norden der Insel, nahe der Stadt Saint-Pierre. Ihr Name ist in das kollektive Gedächtnis der Karibik eingebrannt: 1902 zerstörte sie in einer der schlimmsten Eruptionen der modernen Geschichte die damalige Hauptstadt vollständig.
Mehr als 28.000 Menschen verloren innerhalb weniger Minuten ihr Leben – ein Inferno aus Glut, Gas und Asche, das nur zwei Überlebende zurückließ.

Seither steht die Pelée unter ständiger Beobachtung. Ihre letzte eruptive Phase liegt jedoch schon lange zurück: 1929 bis 1932 spuckte sie zuletzt Lava und Gas. Seitdem – Ruhe.

Doch ein „ruhender“ Vulkan ist kein toter Vulkan. Geologisch betrachtet ist die Montagne Pelée nach wie vor aktiv – und besitzt damit jederzeit das Potenzial, sich wieder zu regen.


Ein Zittern geht durch den Norden

Zwischen dem 26. September und dem 3. Oktober 2025 registrierte das Observatoire Volcanologique et Sismologique de Martinique (OVSM) ganze 2.585 kleine Erdbeben vulkanischen Ursprungs. Eine Woche zuvor waren es „nur“ 2.267 gewesen.
Das ist keine Kleinigkeit: Diese Zunahme signalisiert, dass sich im Inneren des Berges Spannungen aufbauen, Gestein bricht, vielleicht weil Flüssigkeiten oder Gase in Bewegung geraten.

Normalerweise gehört ein gewisses Maß an Mikroseismik zum Alltag rund um den Vulkan. Aber dieser sprunghafte Anstieg lässt erfahrene Vulkanologen hellhörig werden. Die Instrumente zeigen eine unruhige Erde – ein beunruhigendes Flüstern aus der Tiefe.


Kein sichtbares Aufblähen – noch nicht

Doch trotz dieser Aktivität gibt es derzeit keine Anzeichen dafür, dass sich der Vulkan physisch aufbläht.
Das wäre ein klassisches Warnsignal für aufsteigendes Magma, das die Erdkruste dehnt und verformt. Auch chemische Analysen zeigen bislang keine drastischen Veränderungen in den austretenden Gasen. Kurz gesagt: Es rumort, aber der Deckel bleibt dicht.

Die Wissenschaftler des OVSM sprechen daher von einem Zustand der „verstärkten Wachsamkeit“. Eine Phase, in der der Vulkan sich möglicherweise nur streckt und gähnt – ohne gleich aufzuwachen.


Zwischen Ruhe und Risiko

Was also bedeutet all das? Die meisten Experten raten zur Gelassenheit, ohne die Wachsamkeit zu verlieren.
Die erhöhte Sismicité – wie die Franzosen sagen – ist zwar ungewöhnlich, aber kein eindeutiges Vorzeichen einer unmittelbar bevorstehenden Eruption. Entscheidend ist, ob sich im weiteren Verlauf eine magmatische Bewegung abzeichnet: Wenn Magma in die oberen Gesteinsschichten aufsteigt, Druck aufbaut oder sich zersetzt, dann kann der Prozess kippen – und die Pelée erwacht wirklich.

Momentan scheint sie jedoch nur zu murmeln, nicht zu brüllen.


Warum die Lage dennoch ernst bleibt

Die nordmartinikanische Region um die Pelée ist keine Einöde. Zahlreiche Dörfer und kleine Städte liegen in Sichtweite des Vulkans – Orte wie Morne-Rouge, Ajoupa-Bouillon oder Le Prêcheur.
Im Falle einer explosiven Eruption wären sie gefährdet durch Ascheregen, pyroklastische Ströme oder Schlammlawinen, sogenannte Lahars.
Und jeder auf der Insel kennt die Geschichte von 1902. Niemand möchte, dass sich diese Tragödie wiederholt.

Deshalb intensivieren Behörden und Wissenschaftler ihre Überwachung: Sensoren, GPS-Stationen, Gasanalysen, Drohnenflüge. Derzeit gilt die gelbe Warnstufe, was erhöhte Aufmerksamkeit bedeutet, aber keine akute Gefahr.


Vertrauen ist so wichtig wie Technik

Was sich in diesen Tagen zeigt, ist nicht nur ein geologisches, sondern auch ein menschliches Phänomen: Wie kommuniziert man Unsicherheit?
Die Wissenschaft weiß viel – aber nicht alles. Sie kann Daten lesen, Tendenzen erkennen, Szenarien berechnen. Doch wann genau ein Vulkan explodiert, bleibt selbst für erfahrene Forscher oft ein Rätsel.

Darum kommt es jetzt auf klare, transparente Information an.
Keine Panikmache, aber auch keine Beschwichtigung. Vertrauen wächst, wenn die Bevölkerung versteht, was geschieht – und warum bestimmte Vorsichtsmaßnahmen notwendig sind.


Ein Fenster für die Forschung

Für die Geowissenschaft ist die aktuelle Situation ein Glücksfall.
Kaum ein anderer Vulkan der Karibik ist so gut instrumentiert wie die Pelée. Jedes Zittern, jedes Gas, jede minimale Temperaturveränderung wird aufgezeichnet.
Sollte sich tatsächlich ein neuer Zyklus ankündigen, wäre das eine einmalige Gelegenheit, die Frühphasen einer Reaktivierung eines Vulkans in Echtzeit zu beobachten – etwas, das weltweit nur selten gelingt.


Zwischen Faszination und Furcht

Vielleicht ist das das Besondere an Vulkanen: Sie vereinen Zerstörung und Schönheit, Angst und Ehrfurcht.
Wer einmal vor der Montagne Pelée gestanden hat, spürt ihre Kraft – selbst im Schweigen.
Die Menschen auf Martinique wissen, dass sie mit ihr leben müssen. Sie nennen sie „la grande dame“ – die große Dame – und behandeln sie mit einer Mischung aus Respekt, Liebe und stiller Sorge.

Wird sie diesmal ruhig weiterschlummern?
Oder ist dies das leise Vorspiel eines neuen Erwachens?

Die Antwort liegt – buchstäblich – in der Tiefe.

Autor: Andreas M. Brucker

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!