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Chambéry, die charmante Hauptstadt des Départements Savoie, will zur Stadt der Ruhe werden. Doch das „Apaisement“, das die Stadtverwaltung anstrebt, betrifft längst nicht nur Autos – sondern auch Fahrräder und E-Scooter. Ein ehrgeiziger Schritt, der die urbane Mobilität neu austariert und hitzige Diskussionen entfacht.

Seit 2023–2024 gilt in weiten Teilen Chambérys Tempo 30. Wo früher mit 50 km/h gefahren wurde, ist nun Entschleunigung angesagt. Nur auf großen Verkehrsachsen, in Gewerbezonen oder auf Busspuren bleibt die alte Geschwindigkeitsgrenze bestehen. Rund 80 neue „Zone 30“-Markierungen wurden auf den Asphalt gemalt, dazu chikanenartige Umbauten, neu geordnete Parkplätze und sicherere Fußwege.

Doch was nüchtern nach Verkehrspolitik klingt, hat das Potenzial, den Alltag der Menschen spürbar zu verändern.

Beteiligung statt Verordnung

Das Projekt entstand nicht am grünen Tisch. Quartiersräte, Bürgerinitiativen und Verkehrsverbände waren früh eingebunden, um über hundert kritische Kreuzungen und Konfliktzonen zwischen Fußgängern, Radfahrern und Autos zu identifizieren. Die Devise lautete: Stadtplanung als Gemeinschaftsarbeit.

„Ville apaisée“ – das klingt nach französischer Poesie, meint aber etwas sehr Konkretes: weniger Lärm, weniger Stress, mehr Platz für alle. Eine Stadt, in der Tempo keine Tugend, sondern eine Frage der Rücksicht ist.

Bremsen müssen auch die Radler?

Genau hier beginnt die Kontroverse. Denn das neue Miteinander verlangt auch von den Radfahrenden mehr Selbstdisziplin.

Chambéry erlebt seit Jahren einen deutlichen Fahrradboom: Zwischen 2021 und 2022 stieg die Zahl der Radler um rund zehn Prozent. Doch mit der wachsenden Zahl kam auch mehr Reibung – besonders in Parks und Fußgängerzonen, wo sich Spaziergänger und E-Bikes oft zu nahe kommen. Im beliebten Parc du Verney beschwerten sich Anwohner über Radler, die „mit Karacho“ durch die Spazierwege sausten.

Die Antwort der Stadt: neue Schilder an den Parkeingängen – „Cyclistes et trottinettes, pieds à terre“. Räder an die Hand, bitte! Ein Gebot, das laut Straßenverkehrsordnung ohnehin gilt, aber bislang kaum bekannt war.

Manche Radfahrende empfinden die Maßnahme als übertrieben, andere begrüßen sie als längst überfälligen Schritt zu mehr Sicherheit. Zwischen beiden Lagern steht die Stadtverwaltung, die lieber auf Erziehung als auf Sanktion setzt.

Mehr Freiheiten – aber mit Regeln

Gleichzeitig verfolgt Chambéry eine ehrgeizige Radverkehrspolitik. Laut der neuen „Charte d’aménagements cyclables“ des Großraums Grand Chambéry sollen alle Straßen mit Tempo 30 automatisch in beide Richtungen für Radfahrende geöffnet werden – es sei denn, es gibt triftige Gründe dagegen. Ein Schritt, der die Wege kürzer und das Rad attraktiver macht.

Auf der neuen Radspur der Avenue du Comte-Vert zeigt sich allerdings: Gute Absicht ist nicht gleich gute Praxis. Hier führen die höheren Radgeschwindigkeiten bereits zu Konflikten mit Fußgängern. Zuständig für diese Art von Infrastruktur ist nicht allein die Stadt, sondern die gesamte Agglomeration – und das macht die Abstimmung nicht einfacher.

Zwischen Lob und Skepsis

Die Reaktionen sind geteilt. Befürworter loben den Mut der Stadt, die Verkehrswende ernst zu nehmen. Weniger Geschwindigkeit heißt weniger Unfälle, mehr Sicherheit und eine lebenswertere Innenstadt. Studien belegen: Sinkt das Tempo von 50 auf 30 km/h, halbiert sich das Risiko tödlicher Kollisionen.

Kritiker hingegen sprechen von Überregulierung. Wer Radfahrende bremst, die ohnehin emissionsfrei und platzsparend unterwegs sind, schwäche das falsche Verkehrsmittel. Sportliche Fahrer empfinden die Regeln als Gängelung, und manch ein Anwohner fragt sich: Wie soll das überhaupt kontrolliert werden?

Eine berechtigte Frage – denn die Polizei kann kaum an jeder Kreuzung Geschwindigkeiten messen. Vieles hängt also vom gegenseitigen Verständnis ab, von einer Kultur der Rücksicht, die wachsen muss.

Der lange Atem der Stadtplanung

Dass solche Maßnahmen wirken, zeigt ein Blick nach Grenoble, Lille oder Paris, wo die flächendeckende Tempo-30-Regel bereits Realität ist. Dort sanken Lärm, Unfallzahlen und Abgase – gleichzeitig stieg die Zufriedenheit der Anwohner.

Chambéry steht nun an einem ähnlichen Punkt. Doch jede Stadt tickt anders: topografisch, kulturell, sozial. Die Alpenstadt ist kleiner, enger, fahrradfreundlicher – und vielleicht genau deshalb ein ideales Labor für das neue Gleichgewicht zwischen Mobilität und Gelassenheit.

Ob Chambéry tatsächlich zur „ville apaisée“ wird, hängt nicht nur von Schildern und Tempolimits ab. Sondern davon, ob die Menschen die Idee mittragen.

Rücksicht kann man nicht verordnen. Aber man kann sie sichtbar machen – auf Asphalt, in Parks und im Kopf.

Autor: C. Hatty

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