Ein Berghang, der in Bewegung gerät, ein Donnern in der Ferne, das näher rückt – und plötzlich liegt die Straße unter Felsblöcken begraben. In den Alpes-Maritimes gehört dieses Szenario längst nicht mehr zur Ausnahme. Es ist Alltag. Die landschaftliche Idylle zwischen zerklüfteten Felsen und grünen Tälern birgt ein ständiges Risiko: Erdrutsche und Felsstürze, begünstigt durch die geologische Beschaffenheit, den Klimawandel und die dichte Besiedlung in schwieriger Topographie.
Die Gefahr ist nicht nur real – sie ist strukturell verankert.
Wenn der Berg nicht stillhält
Ein Paradebeispiel für dieses komplexe Spannungsfeld ist La Clapière, oberhalb des Tinée-Tals gelegen. Hier schiebt sich eine gigantische Gesteinsmasse langsam talwärts. Die Zahlen wirken fast surreal: Rund 50 Millionen Kubikmeter Material bewegen sich – schleichend, aber stetig. Ein Felsriese auf Wanderschaft.
Doch das Gefährliche ist nicht die Langsamkeit, sondern das Potenzial zur plötzlichen Katastrophe. Sollte der Hang abrupt abbrechen, könnte sich oberhalb von Saint-Étienne-de-Tinée ein natürlicher Damm bilden, der das Wasser aufstaut – bis er schließlich bricht. Dann droht eine verheerende Flutwelle. Um dieser Gefahr zuvorzukommen, wurde ein Umleitungstunnel errichtet, der das Wasser im Ernstfall abführen kann.
Ein Tropfen zu viel – und der Berg gibt nach
Die Zeitbombe tickt nicht nur still, sondern auch laut. Am 2. und 3. Oktober 2020 schlug die Natur mit aller Wucht zu: Sturm Alex, ein Unwetter von historischer Intensität, ließ in Teilen der Täler Tinée, Vésubie und Roya bis zu 600 Liter Regen binnen 24 Stunden niedergehen. Ein Extremwert, der selbst erfahrene Meteorologen erschaudern ließ.
Das Ergebnis: komplett durchnässte Böden, Wassereinlagerungen in Felsformationen, aufgeweichte Gesteinsschichten. Die Natur verliert an Halt – im wahrsten Sinne des Wortes. Alte Risse werden aktiv, neue Spalten tun sich auf. Ganze Hänge beginnen zu rutschen, scheinbar aus dem Nichts.
Wenn der Weg zur Arbeit zur Mutprobe wird
Diese Prozesse bleiben nicht im Verborgenen. Sie treffen das Rückgrat der Region: Straßen, Bahnlinien, kleine Ortschaften. Die RM 2205, die als Lebensader der Bergdörfer gilt, wurde mehrfach durch Felsstürze blockiert. Die legendäre Bahnstrecke des „Train des Pignes“ wurde 2024 nach einem Felssturz bei Utelle lahmgelegt. Und der pittoreske Ort Coaraze? Komplett von der Außenwelt abgeschnitten, nachdem sich ein großer Fels vom Abhang löste.
Für die Bewohner bedeutet das: kein Strom, keine Lieferungen, keine Sicherheit. Und jeden Tag die Frage: Komme ich morgen noch durch?
Katastrophe mit Stempel
Angesichts dieser Entwicklungen wurden im Frühjahr 2024 mehrere Orte – darunter Coaraze, Saint-Jeannet, Vence und Saint-Paul-de-Vence – offiziell als Katastrophengebiete anerkannt. Das bringt zumindest finanzielle Entlastung für die Betroffenen. Auch nach dem Herbststurm „Leslie“ wurden 32 Gemeinden in den Status der Naturkatastrophe überführt.
Aber lässt sich ein Risiko wirklich „anerkennen“? Oder steckt dahinter nicht eher ein hilfloser Versuch, mit der Unberechenbarkeit zurechtzukommen?
Prävention zwischen Theorie und Praxis
Theoretisch ist vieles geregelt. Es gibt Risiko-Präventionspläne, sogenannte PPRs. Doch in der Praxis geraten diese schnell an ihre Grenzen – vor allem in eng besiedelten Gebirgsregionen, wo sich Häuser, Wege und Infrastruktur an steile Hänge schmiegen.
Stützbauwerke, digitale Bewegungsmelder, Feuchtigkeitssensoren – moderne Technik steht bereit. Doch sie kostet. Und sie erfordert nicht nur Geld, sondern auch Geduld, politischen Willen und institutionelle Zusammenarbeit.
Wenn das Wetter zur Unbekannten wird
Die Klimamodelle sind eindeutig: Extremwetter im Südosten Frankreichs nimmt zu. Mehr Regen, häufiger, heftiger – und damit mehr Druck auf ohnehin labile Hänge. Neue Planungsansätze verbinden daher geologische Kartierung, hydrologische Modellierung und Gefahrenprognosen. Ziel: rechtzeitig wissen, wo’s kritisch wird.
Doch ein Computer erkennt keine Heimatliebe. Die betroffenen Gemeinden kämpfen nicht nur gegen die Natur, sondern auch gegen das Gefühl, ausgebremst zu werden – durch zu strenge Auflagen, durch Bauverbote, durch einen Stempel als „Hochrisikozone“.
Zwischen Berg und Bürokratie
Hier liegt der eigentliche Konflikt: Wie lässt sich Sicherheit gewährleisten, ohne die Entwicklung ländlicher Räume zu ersticken? Wie viel Risiko darf man akzeptieren, wenn das Leben in der Bergwelt weitergehen soll? Und wer entscheidet darüber?
Es braucht einen neuen Schulterschluss: Staat, Kommunen, Wissenschaft, Bevölkerung – gemeinsam, transparent, lösungsorientiert. Denn der Berg fragt nicht nach Zuständigkeiten.
Fazit
Erdrutsche in den Alpes-Maritimes sind kein Kuriosum – sie sind Ausdruck eines lebendigen, aber verletzlichen Naturraums. Die Region hat gelernt, mit dem Risiko zu leben. Sie hat Tunnel gebaut, Sensoren installiert, Pläne geschrieben.
Doch angesichts immer neuer Wetterextreme reicht das nicht mehr. Die Resilienz der Bevölkerung ist hoch – aber nicht grenzenlos. Der Berg bleibt, was er ist: schön, gewaltig, unberechenbar.
Die Frage ist nicht, ob es erneut kracht. Sondern: Wie gut sind wir vorbereitet, wenn es passiert?
Von C. Hatty
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