Es gibt Momente, in denen ein ganzes Land für einen Augenblick den Atem anhält. Die Inhaftierung eines Ex-Präsidenten wie Nicolas Sarkozy ist so ein Moment. Ebenso das spektakuläre Urteil gegen Cédric Jubillar, dessen Schuld auch nach Monaten der Ermittlungen und medialer Dauerpräsenz noch immer nicht zweifelsfrei geklärt ist. Und dann sind da die überfüllten Gefängnisse, in denen sich die Realität des französischen Justizsystems wie unter einem Brennglas zeigt – trostlos, überfordert, bis über die Belastungsgrenze hinaus vollgestopft.
Ich habe Angst um die französische Justiz. Nicht aus ideologischen Gründen. Nicht aus Misstrauen gegenüber Richtern oder Staatsanwälten. Sondern weil sich ein bedrückendes Gefühl breitmacht: Dass etwas Grundlegendes aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Die Justiz – das sollte der Ort sein, an dem sich der Rechtsstaat beweist. Wo Gerechtigkeit nicht nur gesprochen, sondern auch empfunden wird. Doch was, wenn diese Instanz selbst ins Wanken gerät?
Nicolas Sarkozy, der einst höchste Mann im Staat, sitzt hinter Gittern. Sicher, das Urteil ist rechtskräftig, die Beweise laut Gericht erdrückend. Und doch bleibt ein schales Gefühl zurück. Nicht wegen Mitleid – sondern wegen der Symbolkraft. Wenn selbst höchste Repräsentanten des Staates nicht wegen ihrer Tat(en) verurteilt werden, sonder wegen der angenommen Teilnahme an eine kriminellen Vereinigung. Sarkozy wurde verurteil, nicht weil man ihm eine konkrete Tat nachweisen konnte – sondern vielmehr, weil man annahm, dass er von den kriminellen Machenschaften einer Gruppe einflussreicher Menschen Kenntnis hatte.
Der Fall Jubillar wirft ein weiteres Licht auf die Schwächen des Systems: Ein verschwundener Mensch, ein öffentlich vorverurteilter Ehemann, ein Prozess, bei dem sich viele Beobachter fragen: Genügt das, was man weiß, wirklich für ein Urteil dieser Tragweite? Hier geht es nicht um Schuld oder Unschuld – das entscheiden die Gerichte. Aber es geht um Zweifel. Um eine Öffentlichkeit, die sich zwischen Sensationslust und echtem Rechtsverständnis verliert. Und um eine Justiz, die sich in einem Meer aus Erwartungen, medialem Druck und systemischem Personalmangel behaupten muss. Und auf Grund von „Wahrscheinlichkeit“ einen Menschen für 30 Jahre ins Gefängnis steckt – und nicht auf Grund erwiesener Schuld.
Und dann die Gefängnisse.
Sie sind der stille Beweis, dass vieles nicht mehr funktioniert. Frankreichs Haftanstalten platzen aus allen Nähten – über 75.000 Inhaftierte bei nur rund 60.000 Plätzen. Die Zustände sind erbärmlich: zu wenig Platz, zu wenig Personal, kaum Resozialisierung. Was bitte soll eine Gesellschaft daraus lernen? Dass Strafe bedeutet, Menschen in unwürdige Verhältnisse zu pferchen, in denen Gewalt, Drogen und Hoffnungslosigkeit regieren?
Eine echte Justiz misst sich nicht an der Anzahl ihrer Urteile, sondern an der Menschlichkeit, mit der sie urteilt.
Frankreich steht an einem juristischen Scheideweg. Vertrauen, das über Jahrzehnte gewachsen ist, erodiert zusehends. Wenn die Menschen beginnen, die Entscheidungen der Justiz nicht mehr zu verstehen, sie als willkürlich, politisch motiviert oder überfordert wahrnehmen – dann ist der Boden bereitet für gefährliche Entwicklungen.
Für Populismus.
Für Zynismus.
Für Gleichgültigkeit.
Der Rechtsstaat existiert nicht, um Unschuldige zu beruhigen. Sondern um Schuld zu klären. Um das Maß zwischen Strafe und Gnade, zwischen Abschreckung und Wiedereingliederung zu finden. Jeden Tag aufs Neue. Unabhängig, mutig, transparent.
Doch dazu braucht es Vertrauen. In die Institutionen, in die Verfahren, in die Menschen, die darin arbeiten. Dieses Vertrauen bröckelt gerade. Nicht in einem großen Knall – sondern Stück für Stück, mit jeder überfüllten Zelle, mit jeder fragwürdigen Verurteilung, mit jedem Justizskandal, der unbeantwortet bleibt.
Die französische Justiz ist kein kaputtes System.
Aber sie ist ein verletztes.
Und Verletzungen, die man ignoriert, infizieren sich.
Es braucht jetzt Mut. Investitionen in Personal und Infrastruktur. Zeit für sorgfältige Verfahren statt Quotendruck. Eine Debatte, die nicht nur fragt: „Ist das Urteil korrekt?“ – sondern auch: „Ist es gerecht?“
Denn Justiz bedeutet nicht nur Recht – sondern auch Gerechtigkeit.
Und genau die steht derzeit auf dem Spiel.
Von C. Hatty
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