Tag & Nacht


Die Bilder, die Frankreich am 21. Oktober 2025 erreichen, sind von historischer Wucht. Ein ehemaliger Präsident, Nicolas Sarkozy, tritt eine fünfjährige Haftstrafe an. Verurteilt wegen bandenmäßiger Korruption im Zusammenhang mit der mutmaßlich illegalen Finanzierung seiner Wahlkampagne durch das Regime des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi. Das ist mehr als eine juristische Episode. Es ist ein symbolischer Moment, wie ihn die Fünfte Republik noch nie erlebt hat.

Und doch bleibt die nationale Erschütterung aus. Kein Aufschrei, keine Massendemonstrationen, keine besonders sichtbare Erregung in den sozialen Netzwerken. Frankreich nimmt dieses Ereignis zur Kenntnis – mit einem Gemisch aus nüchterner Zustimmung, institutionellem Respekt und politischer Müdigkeit. Die grosse Frage lautet: Was offenbart diese Gleichgültigkeit über das Verhältnis der Franzosen zu ihrer Demokratie?

Der Rechtsstaat zeigt seine Zähne – aber ohne moralische Euphorie

Dass ein ehemaliger Präsident für ein mutmaßlich kriminelles Netzwerk zur Rechenschaft gezogen wird, markiert einen Sieg der Justiz über die politische Macht. Frankreich, das jahrzehntelang mit Skandalen und Affären auf höchster Ebene zu ringen hatte – von Mitterrands Geheimhaltungspolitik über Chiracs Vetternwirtschaft bis hin zu Fillons Scheinarbeitsaffäre – zieht erstmals eine tatsächliche rote Linie.

Insofern ist die Verurteilung Sarkozys ein Akt republikanischer Hygiene. Sie signalisiert, dass auch höchste Amtsträger nicht über dem Gesetz stehen. Das ist bedeutsam für ein Land, dessen politische Kultur lange von einem fast monarchischen Präsidentenbild geprägt war.

Doch diese juristische Klarheit erzeugt keine moralische Erhebung. Das liegt nicht nur an der Person Sarkozy, die seit Jahren polarisiert. Es liegt auch daran, dass die institutionelle Botschaft den Einzelnen überdeckt: Was in Erinnerung bleibt, ist nicht nur der Mann – sondern insbesondere das System, das ihn einholt.

Eine geteilte Republik, unfähig zur kollektiven Reaktion

Die politische Rezeption des Urteils folgt altbekannten Linien. In konservativen Kreisen dominiert der Reflex der Verteidigung: Man spricht von einem politisierten Verfahren, von einer Justiz, die mit zweierlei Maß messe. Auf Seiten der Linken hingegen wird das Urteil als lange überfälliger Sieg des Rechts über die Macht gefeiert.

Diese Lagerreaktionen verhindern jede Form kollektiver Empathie oder Empörung. Statt eines nationalen Moments der Selbstvergewisserung steht ein weiteres Beispiel für die Fragmentierung der französischen Öffentlichkeit. Der Fall Sarkozy wird nicht zum Fanal – er wird zum Symbol einer gespaltenen Republik, in der Recht zwar durchgesetzt wird, aber kaum als gemeinschaftlicher Wert erlebt wird.

Müdigkeit der Affären und Vorrang der Gegenwart

Die Ursachen für das Ausbleiben einer starken öffentlichen Reaktion liegen auch in der gesellschaftlichen Tektonik Frankreichs. Nach Jahren permanenter Skandale, Rücktritte, Affären und Enthüllungen hat sich eine Art politische Abstumpfung eingestellt. Sarkozys Verurteilung ist der Kulminationspunkt einer langen Serie juristischer Auseinandersetzungen, die das Vertrauen in die politische Klasse ebenso untergraben wie das Interesse am Einzelfall.

Hinzu kommt: Die Sorgen der Bürger liegen heute woanders. Inflation, Unsicherheit, Migration, Bildungsnotstand – all das betrifft den Alltag unmittelbarer als ein Urteil über einen Präsidenten vergangener Jahre. Die Affäre wirkt in der Gegenwart der Menschen seltsam entrückt, fast museal.

Ein Moment der Gerechtigkeit – ohne kathartische Wirkung

Frankreich hat in diesem Herbst juristische Geschichte geschrieben – aber keine gesellschaftliche Erneuerung erfahren. Sarkozys Haftantritt ist ein Akt rechtsstaatlicher Stärke, doch er bleibt ein kalter Triumph.

Es ist bemerkenswert, dass ein solcher Schritt – ein ehemaliger Präsident im Gefängnis – nicht zu einer kollektiven Reflexion über politische Verantwortung führt. Vielmehr scheint sich die Republik mit dem Gedanken abgefunden zu haben, dass ihre Institutionen gelegentlich stärker sind als ihre Repräsentanten.

Das ist tröstlich – aber auch ernüchternd. Denn in einer gesunden Demokratie sollte das Recht nicht nur durchgesetzt, sondern auch als moralische Kraft erlebt werden. Sarkozy sitzt – aber die Republik bleibt still.

Von Andreas Brucker

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!