Der französische Innenminister Laurent Nuñez hat vier Abgeordnete der linken Oppositionspartei La France insoumise (LFI) wegen öffentlicher Verleumdung angezeigt. Der Vorwurf: Ihre Aussagen im Zusammenhang mit dem 20. Jahrestag des Todes zweier Jugendlicher in Clichy-sous-Bois würden der Polizei pauschal Anwendung tödlicher Gewalt unterstellen. Der Fall berührt ein emotional aufgeladenes politisches Spannungsfeld – zwischen dem Schutz der Institution Polizei und der Debatte über strukturelle Gewalt.
Am 29. Oktober 2025 gab Innenminister Laurent Nuñez bekannt, juristisch gegen die LFI-Abgeordneten Manon Aubry, Paul Vannier, Aurélien Taché und Ersilia Soudais vorzugehen. Anlass war ihre Beteiligung an einer Gedenkveranstaltung zum Tod von Zyed Benna und Bouna Traoré, zwei Jugendlichen, die 2005 in einem Transformatorraum starben, nachdem sie vor einer Polizeikontrolle geflüchtet waren – ein Ereignis, das landesweite Proteste auslöste und seither als Symbol für die Spannungen zwischen Polizei und Banlieues gilt.
In einer Erklärung hatten die LFI-Abgeordneten erklärt: „Seit dem Tod von Zyed und Bouna sind 162 Menschen bei Polizeikontrollen ums Leben gekommen. Zwanzig Jahre später wiederholen sich die Geschichten: Die Polizei tötet immer noch, und die Opfer sind dieselben.“ Für Nuñez geht diese Formulierung zu weit: Sie suggeriere ein systematisches, vorsätzliches Verhalten innerhalb der Polizei, das mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar sei. „Man lässt glauben, dass die Polizei eine Tötungsabsicht gegen junge Menschen gewissen Vierteln hegt“, so der Minister gegenüber dem Journal du Dimanche.
Politischer Diskurs auf juristischem Terrain
Die juristische Grundlage der Anzeige lautet auf „diffamation publique“, also öffentliche Verleumdung. Diese Straftat setzt voraus, dass einer bestimmten Gruppe – in diesem Fall der Polizei – ein Verhalten unterstellt wird, das ehrverletzend und nachweislich unwahr ist. Doch jenseits der juristischen Dimension entfaltet der Fall eine erhebliche politische Sprengkraft.
Erstens trifft er einen wunden Punkt im französischen Gesellschaftsgefüge: den strukturellen Konflikt zwischen Teilen der Bevölkerung in sozial benachteiligten Stadtvierteln und der Polizei. Die Kritik an sogenannten „violences policières“, also Polizeigewalt, ist in Frankreich nicht neu und wird seit dem Tod von Nahel M. im Sommer 2023 erneut mit Vehemenz geführt. Auch damals hatte ein Polizeieinsatz den Tod eines Jugendlichen aus einem Vorort zur Folge – begleitet von tagelangen Unruhen.
Zweitens wirft der Fall Fragen zur parlamentarischen Redefreiheit auf. Dürfen gewählte Volksvertreter die Polizei pauschal anklagen – oder stellt dies eine Grenze der freien Meinungsäußerung dar? Die LFI-Fraktion spricht von einem „Angriff auf das freie Wort der Volksvertreter“ und sieht in der Anzeige den Versuch, kritische Stimmen mundtot zu machen. Die Abgeordneten wollen an ihrer Formulierung festhalten: „Die Polizei tötet – und wir werden es immer wieder sagen.“
Symbolik und Timing: Warum der Konflikt eskaliert
Dass die Aussagen ausgerechnet am 20. Jahrestag des Todes von Zyed und Bouna fielen, verleiht der Auseinandersetzung eine hohe symbolische Dichte. Die Ereignisse von 2005 markieren für viele Franzosen einen Wendepunkt im Umgang des Staates mit den Banlieues – ähnlich wie etwa die Ausschreitungen in den USA nach dem Tod von George Floyd für den amerikanischen Diskurs über Polizeigewalt stehen. Die Wiederholung dieser Debatte zwei Jahrzehnte später zeigt, wie tief die gesellschaftliche Spaltung bleibt.
Auch kommunikativ ist der Vorgang bemerkenswert: Mit seiner Anzeige verschafft Nuñez der umstrittenen Aussage eine noch größere mediale Bühne. Der Satz „La police tue toujours“ wird seither landesweit zitiert – mit Zustimmung oder Ablehnung, je nach politischem Lager. Diese Dynamik birgt Risiken: Der Versuch, die Integrität der Polizei zu schützen, könnte den gegenteiligen Effekt haben und die Debatte über strukturelle Gewalt erst recht befeuern.
Zwischen Wahrheitsanspruch und politischer Strategie
Statistisch gesehen ist die Zahl tödlicher Polizeieinsätze in Frankreich nicht exakt dokumentiert, da es keine einheitliche offizielle Erfassung gibt. NGOs wie Basta! oder ACAT veröffentlichen eigene Berichte, die teils auf Medienrecherchen und gerichtlichen Verfahren beruhen. Die von LFI genannte Zahl von 162 Todesfällen in 20 Jahren bezieht sich offenbar auf solche Quellen, ist aber nicht offiziell bestätigt.
Die zentrale Frage bleibt: Handelt es sich um eine fundierte politische Aussage, oder um eine polemische Zuspitzung? Und: Darf der Staat mit juristischen Mitteln gegen solche Aussagen vorgehen, oder untergräbt er damit die offene demokratische Debatte?
Die Position von Laurent Nuñez ist klar: Er will ein Zeichen setzen – nicht gegen die Kritik an Einzelfällen, wohl aber gegen pauschale Vorwürfe. „Kritik ist legitim, aber Verleumdung nicht“, lautet der Subtext. Für die LFI hingegen ist die Anzeige ein Beleg für die Repression kritischer Stimmen und ein Versuch, die Realität struktureller Gewalt zu leugnen.
Wie das Pariser Strafgericht diesen Fall bewertet, könnte Präzedenzwirkung haben. Die juristische Einordnung der Aussage „La police tue toujours“ dürfte weit über den Einzelfall hinaus Bedeutung entfalten – insbesondere für die Frage, wie weit die Meinungsfreiheit von Abgeordneten reicht, wenn sie gegen staatliche Institutionen Stellung beziehen.
Im weiteren Verlauf wird auch entscheidend sein, ob der öffentliche Diskurs sich auf die Symbolik der Formulierungen verengt – oder ob eine breitere, empirisch fundierte Auseinandersetzung mit Polizeigewalt, institutioneller Verantwortung und gesellschaftlicher Integration gelingt. Frankreichs innenpolitische Debatten kreisen immer häufiger um Fragen der Ordnung, der Legitimität staatlicher Gewalt – und der Grenzen des Sagbaren. Die Anzeige von Laurent Nuñez markiert in diesem Kontext mehr als nur einen juristischen Schritt. Sie ist ein politisches Statement, das Fragen aufwirft, aber (noch) keine Antworten liefert.
Autor: P. Tiko
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