Tag & Nacht


Seit über 40 Tagen herrscht in Washington Ausnahmezustand – zum wiederholten Mal blockiert ein politischer Streit zwischen Republikanern und Demokraten den Bundeshaushalt. Doch der aktuelle „Shutdown“, der längste in der Geschichte der Vereinigten Staaten, markiert eine neue Dimension institutioneller Dysfunktion. Die Auswirkungen sind tiefgreifend: für die Verwaltung, die Wirtschaft und die politische Kultur des Landes.

Ein Machtkampf um Sozialpolitik

Das unmittelbare Auslösemoment dieses Shutdowns war ein erbitterter Streit über die Finanzierung bestimmter Komponenten des „Affordable Care Act“ – besser bekannt als Obamacare. Die Republikaner fordern die Streichung temporärer Subventionen für Gesundheitsprogramme, die ursprünglich im Rahmen der Pandemiebekämpfung eingeführt wurden. Die Demokraten hingegen wollen diese Hilfen verstetigen, um insbesondere ärmeren Haushalten dauerhaften Zugang zu medizinischer Versorgung zu sichern.

Dieser Konflikt hat sich zu einem Grundsatzstreit über die Rolle der Bundesstaaten im sozialen Gefüge der USA ausgeweitet. Während die Republikaner auf fiskalische Disziplin und eine Rückverlagerung sozialer Verantwortung auf die Bundesstaaten pochen, betrachten die Demokraten den Ausbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung als zentrales Element sozialer Gerechtigkeit. Der Streit ist auch ideologisch aufgeladen: Obamacare bleibt für viele Konservative ein Symbol einer als übergriffig empfundenen Zentralregierung.

Verwaltung im Stand-by-Modus

Die unmittelbaren Konsequenzen der Haushaltsblockade sind drastisch. Rund 670.000 Bundesangestellte wurden in unbezahlten Zwangsurlaub geschickt. Weitere 730.000 – darunter Soldaten, Luftsicherheitskräfte, Zollbeamte und Krankenhauspersonal – arbeiten ohne Gehalt. Dies führte bereits zu erheblichen Einschränkungen: Am 9. November wurden allein über 10.000 Flüge annulliert, da viele Fluglotsen und Bodenpersonal schlichtweg überlastet oder abwesend waren.

Hinzu kommen Versorgungsengpässe in nationalen Einrichtungen, geschlossene Museen, lahmgelegte Verwaltungsprozesse und eine allgemeine Unsicherheit in der Bevölkerung. Die Trump-Regierung hatte gar versucht, weitere 4.000 Stellen zu streichen – ein Vorhaben, das erst durch eine gerichtliche Intervention gestoppt wurde. Hinter all dem stehen Existenzen: Familien, die auf Gehaltsschecks warten, ihre Rücklagen aufbrauchen oder Schulden aufnehmen müssen, um ihre Rechnungen zu bezahlen.

Milliardenschäden für die US-Wirtschaft

Auch wirtschaftlich sind die Folgen erheblich. Nach Berechnungen des Congressional Budget Office kostet jede Woche Shutdown etwa 0,4 Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts. Für das vierte Quartal 2025 rechnet man mit einem Gesamtschaden von bis zu 15 Milliarden Dollar. Besonders betroffen ist der private Konsum: Wenn rund 1,4 Millionen Menschen kein oder nur verzögert Einkommen erhalten, wirkt sich das unmittelbar auf den Einzelhandel, auf Dienstleistungen und den Immobilienmarkt aus.

Im Gegensatz zu früheren Krisen – etwa dem Haushaltsstreit 2019 unter Trump – scheint diesmal ein Teil der wirtschaftlichen Verluste irreversibel zu sein. Während frühere Stillstände oft durch Nachholeffekte relativiert wurden, deuten Ökonomen diesmal auf einen strukturellen Vertrauensverlust und eine Verunsicherung der Verbraucher hin, die sich auch mittelfristig dämpfend auf das Wirtschaftsklima auswirken könnte.

Eine tickende Zeitbombe für das Sozialsystem

Besonders brisant ist die Lage bei der staatlichen Lebensmittelhilfe. Das Programm SNAP, von dem 42 Millionen US-Amerikaner monatlich profitieren, droht in Kürze handlungsunfähig zu werden. Zwar wurde aus einem Notfallfonds kurzfristig eine Zahlung von 4,65 Milliarden Dollar genehmigt – doch diese Summe deckt nur etwa die Hälfte der November-Ausgaben. Mehrere Bundesstaaten haben Klage gegen die Bundesregierung eingereicht, um die Auszahlung der Leistungen zu erzwingen. Eine juristische Eskalation ist die Folge – zusätzlich zum politischen Streit.

Die Lage erinnert an die Risiken einer übermäßig zentralisierten Sozialpolitik, die in einem föderalen System auf politische Einigkeit angewiesen ist. Wenn das Zentrum blockiert ist, geraten lebenswichtige Versorgungsmechanismen ins Wanken. Der Fall SNAP zeigt exemplarisch, wie schnell ein politischer Konflikt konkrete humanitäre Folgen entfalten kann.

Ein politisches System in der Vertrauenskrise

Laut einer aktuellen Gallup-Umfrage vom 22. Oktober lehnen 79 Prozent der Amerikaner die Arbeit des Kongresses ab – ein Rekordwert, der selbst die politisch zerrissenen Trump-Jahre übertrifft. Selbst unter republikanischen Wählern sinkt die Zustimmung rapide. Die parteipolitische Polarisierung hat ein Maß erreicht, bei dem grundlegende Funktionsprinzipien der Gewaltenteilung zu erodieren beginnen.

Der aktuelle Shutdown offenbart nicht nur eine temporäre Krise der Haushaltsführung, sondern eine tieferliegende strukturelle Schwäche der amerikanischen Demokratie. In einem politischen System, das auf Checks and Balances und Konsensbildung angelegt ist, dominieren mittlerweile Blockade und Konfrontation. Legislative Entscheidungsprozesse werden zur Bühne für ideologische Kämpfe – auf Kosten der Funktionsfähigkeit des Staates.

Der kurzfristige Kompromiss, den eine kleine Gruppe oppositioneller Senatoren jetzt angestoßen hat, könnte das Ende dieser Lähmung einleiten. Doch ob dies mehr ist als ein vorübergehendes Aufatmen, bleibt ungewiss. Die USA stehen am Scheideweg: Entweder gelingt eine Rückkehr zu institutioneller Verantwortung – oder das Vertrauen in die demokratischen Institutionen wird weiter erodieren. Das Land kann sich weitere Shutdowns dieser Art kaum leisten.

Autor: Andreas M. Brucker

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