Tag & Nacht


Am gestrigen Abend vor genau zehn Jahren wurde Paris von einer der schwersten Terrorserien in der Geschichte der Fünften Republik erschüttert. In einer Nacht gezielter Gewalt verwandelten sich das Bataclan, das Stade de France sowie die Terrassen und Cafés der Hauptstadt in Schauplätze eines Massakers. 130 Menschen verloren ihr Leben, Hunderte wurden verletzt – körperlich wie seelisch. Am 13. November 2025 blickte Frankreich zurück auf ein Jahrzehnt kollektiver Aufarbeitung, juristischer Auseinandersetzung und gesellschaftlicher Selbstbefragung. Was bleibt, ist eine Wunde, die nicht mehr blutet, aber auch nicht verheilt ist.

Die unmittelbare Reaktion des Staates glich einem Reflex auf die Brutalität des Angriffs. Der damalige Präsident François Hollande erklärte das Land für im Kriegszustand, rief den Ausnahmezustand aus und schloss die Grenzen. Die republikanische Erzählung von Einheit, Freiheit und Aufklärung schien auf eine brutale Probe gestellt. Die Anschläge trafen das Herz einer offenen Gesellschaft – nicht nur räumlich, sondern ideell. In den darauffolgenden Monaten und Jahren wuchs das Bedürfnis, das Unerklärbare zu fassen. Ein gewaltiger Gerichtsprozess – der größte seiner Art in Frankreich – begann 2021 und endete im Sommer 2022. Hunderte Zeugenaussagen, unzählige Stunden Tonband, Akten, Tränen. Doch der Rechtsstaat suchte nicht nach Rache, sondern nach einem Rahmen: für Wahrheit, für Würde, für Verantwortung.

Parallel dazu entstand das ambitionierte Forschungsprojekt „13-Novembre“, getragen von Psychologen, Soziologen, Historikern. Es ging darum, die Langzeitwirkung des Terrors zu erfassen – nicht nur in den Biografien der Betroffenen, sondern auch im kollektiven Bewusstsein. Inzwischen zeigt sich: Das Attentat hat Spuren hinterlassen, die nicht verblassen. Der Überlebende Arthur Dénouveaux, selbst Mitbegründer einer Opfervereinigung, sagte kürzlich: „Ich lebe nicht mehr wie früher.“ Es ist dieser Satz, der die Erinnerung in ihrer ganzen Ambivalenz auf den Punkt bringt – zwischen Überleben und innerer Entfremdung.

Frankreichs Sicherheitsapparat hat sich seit 2015 tiefgreifend gewandelt. Die Anti-Terror-Einheiten wurden personell und technologisch massiv aufgerüstet, die Überwachung ausgeweitet, die internationale Zusammenarbeit intensiviert. Präsident Emmanuel Macron ließ im November verlauten, 85 Anschlagspläne seien in den vergangenen zehn Jahren vereitelt worden, allein sechs im laufenden Jahr. Die Terrorbedrohung ist damit nicht verschwunden, aber sie hat ihr Gesicht verändert. Die großen, zentral gesteuerten Angriffe wurden seltener – an ihre Stelle traten spontane, oft von Einzeltätern verübte Attacken, deren Radikalisierung sich meist im Verborgenen, online und innerhalb kürzester Zeit vollzieht.

Gerade deshalb steht Frankreich heute vor einem sicherheitspolitischen Paradox: Der Staat ist besser gerüstet als je zuvor, doch das subjektive Gefühl der Verwundbarkeit bleibt bestehen. Die Diskussion um den Preis der Sicherheit ist dabei nicht verstummt. Menschenrechtsorganisationen warnen vor einer Normalisierung des Ausnahmezustands, etwa durch dauerhaft erweiterte polizeiliche Befugnisse oder anhaltende Einschränkungen von Versammlungsfreiheiten. Es ist ein altes Dilemma liberaler Demokratien: Wie verteidigt man sich, ohne sich selbst zu verlieren?

Doch der tiefere Riss geht über Fragen der Sicherheit hinaus. Er betrifft das soziale Gefüge der Nation. Die Attentäter, so verstörend dies bleibt, waren keine Fremden, sondern Männer aus europäischen Städten, einige in Frankreich geboren, andere in Brüssel oder Molenbeek aufgewachsen. Sie entstammten Milieus, in denen die Versprechen der Republik längst hohl klangen. Die politischen Reaktionen auf diese Erkenntnis waren zögerlich, oft von Rhetorik geprägt, selten von struktureller Konsequenz. Zwar wurde die Prävention von Radikalisierung verstärkt, doch soziale Segregation, Perspektivlosigkeit und Misstrauen gegenüber Institutionen prägen weiterhin viele Vorstädte. Frankreichs Peripherien bleiben ein Raum der Ambivalenz – zwischen republikanischer Norm und sozialer Realität.

Die Gedenkfeiern zum zehnten Jahrestag – verteilt über mehrere Tage in Paris und Saint-Denis – zeugten von einer tiefen, aber auch institutionalisierten Erinnerungskultur. Der neu eingeweihte Jardin du 13 Novembre ist mehr als ein Denkmal: Er ist ein Versuch, das Unfassbare im urbanen Raum zu verankern, es sichtbar zu halten. Doch Gedenken allein genügt nicht. Es muss ergänzt werden durch Bildung, durch politische Auseinandersetzung, durch konkrete Maßnahmen der gesellschaftlichen Kohäsion. Denn Erinnerung ist kein Selbstzweck, sondern Verpflichtung.

François Hollande sagte in einem Interview jüngst, der Terrorismus sei ein „langsames Gift“ – seine Wirkung zeige sich lange nach der Tat. Diese Formulierung trifft die Realität Frankreichs im Jahr 2025 präzise. Der 13. November hat tiefer gewirkt als jede politische Reform: Er hat den inneren Kompass des Landes herausgefordert. Wie weit kann eine Gesellschaft offen bleiben, ohne naiv zu sein? Wie lässt sich nationale Einheit denken, ohne Exklusion? Und was heißt es heute, Bürgerin oder Bürger der République zu sein?

Zehn Jahre danach ist Frankreich nicht „zurück zur Normalität“ gekehrt. Es hat sich gewandelt – politisch, psychologisch, institutionell. Die Erinnerung an die Anschläge ist Teil einer neuen Realität geworden, einer Realität zwischen Trauer und Widerstand, zwischen Schmerz und Selbstbehauptung. Es ist ein Frankreich, das noch immer steht – aber mit einem anderen Blick auf sich selbst.

Von Andreas Brucker

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