Man hört es sofort: den Unterschied zwischen einer stillgelegten Skistation und einer lebendigen. Im Grand Puy, hoch über Seyne-les-Alpes, sind es nicht mehr die Kinder, die juchzend über die Piste rufen, sondern der Wind, der durch die Masten pfeift. Wo einst das metallische Surren der Lifte das Tal erfüllte, liegt jetzt eine eigenartige Ruhe. Fast ehrfürchtig. Eine Ära endet – aber vielleicht beginnt genau hier eine neue.
Vom Glanz vergangener Winter
Die Geschichte von Grand Puy ist die vieler kleiner Skistationen in Frankreich. Entstanden in den 1960er-Jahren, wuchs sie mit dem Wirtschaftswunder, mit dem Glauben an endlosen Schnee und ewige Winter. Familien aus Marseille, Aix oder Digne strömten an Wochenenden hierher. Ein kleiner Hügel, ein paar Pisten, ein Téléski – und alles fühlte sich das an wie die großen Alpen.
Heute steht auf dem Parkplatz ein rostiger Skilift, verwaist und teilweise abgebaut, als hätte jemand mitten im Satz aufgehört zu sprechen. Denise, die ein Chalet in dem Ort besitzt, sagt leise: „Es war so schön hier oben, so lebendig. Jetzt bleiben nur noch die Schneeschuhe.“ Ihre Stimme bricht ein wenig.
Lydie, seit 25 Jahren Stammgast, nickt: „Das war unsere kleine Station, familiär, gemütlich. Wir kommen trotzdem noch – aus Liebe zum Ort.“
Doch Liebe allein stoppt keine Defizite.
Wenn das Minus zu groß wird
350.000 Euro jährlich – so viel kostete die Gemeinde Seyne-les-Alpes der Betrieb der Skistation. 13 Prozent des gesamten Haushalts. Bürgermeister Laurent Pascal stand irgendwann vor einer klaren Entscheidung: entweder weiter in den Abgrund rutschen oder einen Schlussstrich ziehen. Ein Bürgerreferendum machte den Rest.
„Wir mussten die Reißleine ziehen“, sagt Pascal, nüchtern, aber ohne Bitterkeit. „Sonst wäre die Gemeinde irgendwann handlungsunfähig gewesen.“
Er sieht dennoch nach vorn. Und das ist nicht nur Zweckoptimismus. Denn während anderswo noch um jede Schneekanone gerungen wird, hat Seyne-les-Alpes die Zeichen der Zeit erkannt. Der Schnee wird seltener, unzuverlässiger, teurer. Wer heute auf die Zukunft der Berge setzt, muss umdenken.
Der Bürgermeister will die Seen, die früher der Beschneiung dienten, künftig als Angelreviere öffnen. Trails für Mountainbiker, Strecken für E-Bikes, vielleicht sogar Biathlon mit Lasergewehren – eine Art „grüner“ Wintersport.
„Wenn wir nicht an eine andere Form von Berg glauben“, sagt er, „dann verlieren unsere Täler jede Hoffnung.“
Eine steile These – aber vielleicht die einzig mögliche.
Wo Mut den Winter überlebt
Inmitten dieser Veränderung gibt es Menschen, die nicht aufgeben. Sandie Bony zum Beispiel, Besitzerin des einzigen Restaurants der Station: Le Chalet. Ihre Familie führt es seit 66 Jahren.
„Weil man uns die Lifte schließt, sollen wir auch die Tür schließen? Sicher nicht!“, sagt sie entschlossen. Der Satz fällt mit der Energie einer Frau, die schon viele Winter erlebt hat.
Früher war ihr Lokal ein Treffpunkt für Skifahrer mit dampfenden Tabletts und Pommesgeruch. Heute hat sie das Konzept umgekrempelt: kein Self-Service mehr, sondern regionale Küche, Themenabende, Livemusik, Spiele-Nachmittage.
Und dann gibt’s da diese Idee, die alle überrascht hat: die „Balade aux lampions“. Besucher spazieren mit bunten Laternen durch den winterlichen Wald – eine friedliche, fast poetische Alternative zur klassischen „Descente aux flambeaux (Fackelabfahrt)“.
„Am Anfang dachten wir, keiner kommt“, erzählt Sandie und lacht. „Aber die Leute lieben’s! Sie singen, sie reden, Kinder lachen – fast wie früher auf der Piste.“
Sogar ein „Escape Game“ in den Bergen ist in Arbeit – eine Mischung aus Rätsel, Abenteuer und Naturerlebnis.
Und siehe da: Trotz des Endes des Skibetriebs läuft das Restaurant profitabel. Vielleicht, weil hier nicht auf Nostalgie gesetzt wird, sondern auf Fantasie.
Der Schnee als Erinnerung, nicht als Bedingung
Was bedeutet eigentlich „Berg“ ohne Schnee? Diese Frage stellt sich nicht nur Grand Puy, sondern ganz Frankreich. Mehr als 180 Skigebiete haben seit den 1970er-Jahren dichtgemacht. Viele kleine Orte in den Alpen, den Pyrenäen und im Jura suchen verzweifelt nach einer neuen Identität.
Das Klima verändert die Geografie der Sehnsüchte: Die Winter werden kürzer, die Sommer länger. Während die Großstationen mit Schneekanonen und Millionenkrediten gegen den (Klima-)Wandel ankämpfen, versuchen die Kleinen, sich neu zu erfinden – mit Wandern, Wellness, Kultur und Gastronomie.
Aber sind wir, die Besucher, bereit für diesen Wandel? Wollen wir wirklich den Berg als Lebensraum erleben und nicht nur als Freizeitpark?
Grand Puy zeigt: Es geht. Langsamer vielleicht, kleiner, aber ehrlicher. Statt Lärm und Après-Ski: Stille, Lagerfeuer, Sternenhimmel. Statt Massentourismus: Begegnungen.
Natürlich, der Abschied tut weh. Viele hier haben den Schnee geliebt, das Ritual des ersten Sessellifts, das leise Knirschen unter den Skiern. Doch wer sagt, dass Schönheit an Frost gebunden sein muss?
Ein Dorf, das sich selbst neu erfindet
Seyne-les-Alpes plant, das Areal rund um die ehemalige Station als „Quatre Saisons“-Gebiet zu gestalten. Ein Ort, der das ganze Jahr über Besucher anzieht. Im Sommer Biker und Wanderer, im Herbst Pilzsammler, im Winter Familien, die einfach nur Ruhe suchen.
Das Ziel: keine Eventmaschine, sondern nachhaltiger Tourismus. Menschen sollen bleiben, leben, arbeiten – nicht nur für ein paar Wochen im Jahr.
Die Gemeinde setzt auf regionale Produzenten, Handwerksmärkte, Naturführungen. Ein Weg, der nicht spektakulär klingt, aber langfristig tragfähig sein könnte. Denn eine Region, die nur vom Schnee lebt, hat in Zeiten des Klimawandels kaum noch Atem.
Und doch – ein Rest Wehmut bleibt
Manche Abende, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet und das Tal in goldenes Licht taucht, kann man sie fast hören – die alten Geräusche des Grand Puy. Das Klacken der Bindungen an den Ski, das Lachen der Kinder, die Musik aus dem Restaurant.
Dann mischt sich Wehmut mit Stolz. Denn was hier passiert, ist mehr als ein wirtschaftlicher Übergang. Es ist der Versuch, Würde zu bewahren in einer Welt, die sich rasant verändert.
Vielleicht ist Grand Puy kein Skiort mehr. Aber er ist noch immer ein Stück Alpenkultur. Ein Ort, der gelernt hat, dass man auch ohne Schnee glänzen kann – mit Mut, Gemeinschaft und einer Prise Fantasie.
Und wer weiß? Vielleicht hört man eines Tages wieder Stimmen am Hang. Keine von Skifahrern, sondern von Spaziergängern mit Lampions, die sagen: „C’est beau ici, non?“
Ja, schön ist es. Anders, aber schön.
Ein Artikel von M. Legrand
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