Tag & Nacht


Frankreich steht vor einem stillen Umbruch, der nur auf den ersten Blick im Schatten gesellschaftlicher Großthemen steht. Die aktuelle Erhebung des französischen Drogen-Observatoriums OFDT ist eine Zäsur: Der Konsum illegaler Drogen steigt, rapide, flächendeckend, über alle Milieus hinweg.

Die nüchternen Zahlen klingen wie ein Schockbericht aus einem Land im Kontrollverlust.

Über eine Million Menschen zwischen 11 und 75 Jahren konsumierten 2023 in Frankreich Kokain – fast doppelt so viele wie noch im Jahr zuvor. Fast 15 % der Erwachsenen haben schon einmal Substanzen wie Ecstasy, Crack oder Amphetamine ausprobiert. Der tägliche Cannabiskonsum bleibt hoch. Und ein Detail erschüttert besonders: Die Reinheit der Drogen nimmt zu, ihre Preise hingegen kaum – die „Kosten-Nutzen-Rechnung“ für den Konsumenten fällt immer verführerischer aus.

Aber wie kommt es zu diesem dramatischen Anstieg? Wo sind die Ursachen zu suchen – und was folgt daraus für Politik und Gesellschaft?

Die Droge auf Bestellung – wie Amazon, nur schneller

Ein zentrales Stichwort in der Analyse lautet: „ubérisation“. Wer heute in Paris, Lyon oder Marseille Kokain bestellen möchte, muss nicht in dunkle Gassen oder zwielichtige Bars abtauchen. Eine schnelle Nachricht per App, diskrete Übergabe, Lieferung bis zur Haustür. Die Dealer der Gegenwart fahren Motorroller und agieren effizienter als viele Lieferdienste.

Gleichzeitig sinkt der „psychologische Preis“. Wenn eine Lieferung Kokain so unkompliziert zu haben ist wie eine Pizza, verliert der Drogenkonsum sein einstiges Stigma. Er wird zur Normalität – besonders in einer Gesellschaft, in der Tempo, Stress und Leistungsdruck permanent neue Ventile suchen.

Kokain als Karriere-Booster – wenn Selbstoptimierung zum Suchtpfad wird

Die neue Drogenrealität ist nicht mehr auf soziale Brennpunkte beschränkt. Selbst in etablierten Berufsgruppen wird Kokain inzwischen als Mittel zur „Performance-Steigerung“ missbraucht – zwischen Sitzung und Afterwork, zwischen Burnout und Business-Lunch.

Das „Feierabendbier“ der vergangenen Generationen hat Konkurrenz bekommen – chemisch, synthetisch, wirkungsvoll. Und genau hier liegt eine der gefährlichsten Verschiebungen: Die Droge ist kein Tabubruch mehr, sondern Teil eines Alltags, der auf Effizienz und Anpassung trimmt. Nicht nur Jugendliche auf der Suche nach Rausch und Rebellion greifen zu, sondern auch Eltern, Angestellte, Selbstständige.

Mehr Polizei? Mehr Therapie? Mehr Prävention? – Frankreichs Drogenpolitik am Scheideweg

Die bisherigen Antworten der Politik wirken hilflos. Eine starke Zunahme repressiver Maßnahmen hat die Märkte nicht austrocknen können. Im Gegenteil: Die Dealer sind mobiler, anpassungsfähiger, vernetzter denn je.

Doch auch im Gesundheitssystem herrscht Nachholbedarf. Zwar existieren Programme zur Risikoreduktion, doch sie erreichen oft nicht die, die längst mitten im Konsumstrudel gefangen sind. Viele Hilfsangebote richten sich vor allem an Jugendliche – doch der Konsument von heute ist häufig über dreißig, berufstätig, sozial integriert. Und damit: unsichtbar.

Hinzu kommt eine besorgniserregende soziale Komponente. Wer sich in benachteiligten Stadtteilen bewegt, erkennt rasch: Es gibt keine „zonen blanches“ mehr, keine drogenfreien Räume. Der Handel floriert, oft offen, unter den Augen der Anwohner. Wo Staat und Sicherheit fehlen, übernehmen Netzwerke die Kontrolle – mit fatalen Folgen für das soziale Gefüge.

Ein Flächenbrand ohne Feueralarm

Warum schreit niemand? Warum bleibt die mediale und gesellschaftliche Reaktion verhalten, fast schon routiniert?

Vielleicht, weil das Thema unbequem ist. Weil es nicht in klassische Raster passt. Weil es von vielen Seiten beleuchtet werden müsste – medizinisch, sozial, sicherheitspolitisch, wirtschaftlich. Und weil es keine einfachen Antworten gibt.

Aber genau darin liegt die journalistische Aufgabe: hinzuschauen, zu benennen, zu differenzieren.

Was jetzt zu tun wäre – und was nicht mehr reicht

Frankreich steht an einem Punkt, an dem bloßes Weiter-So gefährlich wird. Die Gesellschaft braucht eine neue Balance – zwischen Kontrolle und Unterstützung, zwischen Strafe und Therapie, zwischen öffentlicher Ordnung und individueller Hilfe.

Prävention muss dabei auch Erwachsene erreichen, nicht nur Jugendliche. Die gesundheitliche Versorgung muss Drogenkonsum als chronisch-gesellschaftliches Problem begreifen, nicht als moralischen Ausrutscher. Und: Die Bekämpfung des Handels darf sich nicht auf Polizeiaktionen beschränken, sondern muss digital, wirtschaftlich und strategisch neu gedacht werden.

Die zentrale Frage lautet: Wollen wir weiter so tun, als hätten wir die Kontrolle – oder endlich beginnen, die Realität ernst zu nehmen?

Denn eines ist sicher: Die Drogen sind da. Sie verschwinden nicht von selbst. Aber unsere Ignoranz könnte sie noch mächtiger machen.

Autor: Andreas M. Brucker

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