„Freiheit beginnt bei der ersten Million.“ Es ist ein Satz, den man auf TikTok und Instagram inzwischen häufiger liest als in Business-Zeitungen. Doch wer sich durch die Profile junger Nutzer scrollt, entdeckt schnell: Der Traum vom Wohlstand ist keine ferne Utopie mehr, sondern ein handlungsleitendes Ziel – oft noch vor dem Abitur. In unzähligen Clips versprechen selbsternannte Mentoren: Wer klug klickt, richtig verkauft und diszipliniert postet, verdient schneller Geld als je zuvor. Was für manche nach Aufbruch klingt, ist für andere ein gefährlicher Balanceakt zwischen jugendlicher Ambition und digitaler Verblendung.
Keryan ist 17, Schüler in der Abschlussklasse eines Wirtschaftszweigs. Seine Tage beginnen früh – nicht mit Vokabeln oder Bilanzen, sondern mit Content-Plänen und Conversion-Raten. „Ich habe das Gefühl, mir rennt die Zeit davon“, sagt er. „Ich will finanziell frei sein, und zwar bald.“ Mit 15 startete er auf Vinted, heute verkauft er Online-Kurse – Marketingwissen für Gleichaltrige. Sein Ziel: raus aus dem Hamsterrad, noch bevor er jemals eines von innen gesehen hat.
Keryan ist kein Einzelfall. Auf TikTok inszenieren sich Schüler, Studierende und junge Erwachsene als digitale Unternehmer. Sie reden von „Einkommensströmen“, „skalierbaren Geschäftsmodellen“ und „passivem Einkommen“. Manche preisen den Handel mit digitalen Produkten wie E-Books, andere versprechen sich Reichtum durch Dropshipping – also den Verkauf fremder Produkte über eigene Shops. Der große Unterschied zu früher: Nicht mehr Studium oder Ausbildung gelten als Eintrittskarte in ein besseres Leben, sondern Followerzahlen und Funnels.
„Ich will nicht wie ein Schaf für einen Chef arbeiten“, sagt Noah, 16, aus der ersten Klasse eines Berufsgymnasiums. Für ihn ist die Vorstellung, ein Leben lang fremdbestimmt zu sein, „wie ein Käfig mit Neonlicht“. Zwischen Mathe und Deutsch kuratiert er einen Instagram-Kanal, auf dem er für seine Marketingkurse wirbt – 30 bis 350 Euro pro Stück. Seine Message: Wer den Code des digitalen Markts knackt, kann verdienen, was andere in einem Monat nicht schaffen.
Jacques, 21, ist schon einen Schritt weiter. Seit einem Jahr verkauft er alles, was sich online gut verpacken lässt – von Korrekturgurten über Konsolen bis hin zu Beauty-Gadgets. Dropshipping sei wie ein Strategiespiel, sagt er, mit echtem Geld und echten Risiken. Auch er spricht von Markenbildung, Logodesign und Zielgruppenpsychologie – Worte, die man sonst aus Business-Meetings kennt, nicht aus WG-Küchen.
Doch die Motive der jungen „Entrepreneure“ sind vielschichtiger als bloße Gier. Oft steckt dahinter ein diffuses Gefühl von Unsicherheit – und der Wunsch, sich selbst zu behaupten. „Ich will nicht betteln, wenn ich mir was leisten will“, sagt Noah. Und Keryan erinnert sich an sein Praktikum bei einem Sporthändler: „Zwei Wochen Regale einräumen – da wusste ich, das ist nichts für mich.“ Sie alle wollen Kontrolle – über ihre Zeit, ihr Geld, ihr Leben.
Auch Maeva, 24, suchte diesen Ausweg. Die gelernte Erzieherin hatte ihren Beruf geliebt, aber die Bezahlung war miserabel, der Alltag zermürbend. Dann wurde sie Mutter – und entdeckte auf Instagram das Versprechen von flexiblem Einkommen. Heute verkauft sie digitale Produkte, während ihr Kind schläft. Nicht aus Geiz, sondern aus dem Bedürfnis heraus, nicht mehr „nur zu überleben“.
Doch der goldene Weg zur finanziellen Unabhängigkeit ist mit Fallstricken gesäumt. Denn viele dieser vermeintlichen Erfolgsgeschichten beruhen auf Versprechungen, nicht auf soliden Geschäftsmodellen. Immer häufiger entpuppen sich die Kurse als leere Hüllen, die Shops als Etikettenschwindel. Influencer zeigen ihre Rolex, ihre Lamborghinis, ihre Villen in Dubai – aber nicht die Insolvenzquote ihrer Follower.
Die Masche funktioniert über Emotionen: Schuldgefühle, Angst, Stolz, Liebeskummer. Botschaften wie „Während du scrollst, verdiene ich Geld“ oder „Niemand kommt, um dich zu retten“ richten sich gezielt an die Unsicherheiten junger Menschen. Die Sprache ist betont männlich, aggressiv, übergriffig. Und das System kennt seine Mechanismen: Wer ein Video über E-Commerce schaut, bekommt gleich Dutzende weitere. Was populär ist, wirkt plötzlich glaubwürdig – und schon wird das Unwahrscheinliche zur neuen Realität.
Selbst Timéo, 16, weiß, dass es ein Spiel mit kleinen Chancen ist. Auf Vinted verkauft er Designertaschen zum dreifachen Preis, inzwischen bietet er auch eigene Kurse an. Er weiß, dass nicht jeder Millionär wird – aber „ein bisschen Geld nebenbei“ reicht ihm auch. Seine Einnahmen sind überschaubar, die Legalität seiner Tätigkeit fraglich. Von Steuern und Sozialabgaben hat er „mal gehört“, mehr aber nicht.
Die psychischen Folgen solcher Illusionen sind nicht zu unterschätzen. Wer scheitert, redet nicht darüber. Wer verliert, verschwindet still. Die Psychologin Nathalie Granier warnt: „Jugendliche sind besonders anfällig für digitale Manipulationen – sie erkennen die Absichten hinter den Bildern oft nicht.“ Die Folge: Schlafprobleme, Selbstzweifel, soziale Isolation. Was als Selbstermächtigung beginnt, endet nicht selten in Selbstvorwürfen.
Und während einige noch an ihren Marken arbeiten, kämpfen andere schon mit der Realität: schlechte Konversionsraten, unseriöse Lieferanten, finanzielle Verluste. „Ich habe mal einen Shop gekauft und eine einzige Bestellung bekommen – in anderthalb Monaten“, gesteht Noah. Vom großen Geld blieb nur eine bittere Lektion.
„Wer verliert, schweigt“, sagt die Psychologin. Und doch muss jemand reden. Nicht, um zu verurteilen – sondern um zu erklären. Denn die Sehnsucht nach Freiheit ist kein Fehler. Aber sie braucht Aufklärung, keine Algorithmen. Orientierung statt Illusion. Und Vorbilder, die Erfolg nicht nur an Luxusgütern messen, sondern an dem, was bleibt, wenn der Bildschirm schwarz wird.
Von C. Hatty
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