Goudelin.
Ein Name, der nach Weite klingt, nach Feldern, nach salziger Luft vom Ärmelkanal. Ein Dorf, wie man es sich für den Ruhestand wünscht. Ruhig. Überschaubar. Verlässlich.
Und doch reicht seit gut zwei Jahren ein einziges Geräusch, um dieses Versprechen zu zerbrechen.
Klopf. Klopf.
Nicht laut.
Nicht brutal.
Aber hartnäckig.
In Goudelin, einem unscheinbaren Ort in den Côtes d’Armor, hat sich die Nacht verändert. Früher brachte sie Stille, heute bringt sie Anspannung. Vor allem für jene, die allein leben. Frauen, meist älter, oft verwitwet, mit Häusern, die Geschichten erzählen, aber auch Angriffsflächen bieten.
Seit über zwei Jahren taucht jemand auf, klopft an Türen, schlägt gegen Fensterläden, drückt Klingeln. Sekunden später verschwindet er. Keine Worte. Kein Gesicht. Keine Spur.
Was treibt einen Menschen dazu, genau das zu tun — immer wieder?
Die Betroffenen sprechen nicht von einem einzelnen Vorfall. Sie sprechen von Ritualen. Von Wiederholungen. Von einer Choreografie, die sich in ihr Leben gefressen hat. Manche führen Listen. Uhrzeiten. Wochentage. Wetter. Mondphasen.
120 Mal.
Manchmal mehr.
Nicht an einem Ort, sondern immer wieder an denselben Häusern. Als würde jemand prüfen, ob die Angst noch da ist.
Spoiler: Sie ist da. Jede Nacht.
Eine Frau erzählt, sie habe gelernt, den Fernseher leiser zu drehen, sobald es dunkel wird. Nicht, weil sie jemanden stören will, sondern um jedes Geräusch draußen zu hören. Eine andere schläft nur noch im Wohnzimmer, näher an der Haustür, näher an der Flucht.
Kameras hängen inzwischen an Fassaden, die früher nur Blumenkästen trugen. Bewegungsmelder blinken dort, wo früher Laternen genügten.
Das Dorf hat aufgerüstet — nicht gegen Einbrecher, sondern gegen Unsicherheit.
Am Anfang glaubte kaum jemand an System.
„Das bildest du dir ein.“
„Bestimmt Jugendliche.“
„Vielleicht ein Tier.“
Sätze, die harmlos klingen und doch wie Ohrfeigen wirken. Denn wer nachts allein aufschreckt, wünscht sich vor allem eines: ernst genommen zu werden.
Einige Frauen berichten, ihre Anrufe bei Behörden seien höflich, aber kühl aufgenommen worden. Keine sichtbaren Schäden, kein Delikt, kein Täter. Und doch bleibt dieses Gefühl, das sich nicht wegdiskutieren lässt — das Gefühl, ausgesucht worden zu sein.
Warum gerade sie?
Diese Frage hängt wie Nebel über den Gassen von Goudelin. Manche glauben, der Mann kenne die Gewohnheiten der Frauen. Er taucht nach der Abendmesse auf. Oder kurz nachdem eine beliebte Fernsehsendung endet. Als wüsste er genau, wann das Licht ausgeht.
Zufall?
Oder Beobachtung?
Allein dieser Gedanke reicht, um den Magen zusammenzuziehen.
Es gibt eine Beschreibung. Vage, aber beunruhigend einheitlich. Groß. Schlank. Dunkle Kleidung. Kapuze. Ein Schatten mit schnellen Beinen. Einmal soll ein Gemeinderat ihn gesehen haben. Ein kurzer Blick. Dann Flucht über Felder, durch Hecken, hinein in die Dunkelheit.
Als hätte er das Gelände studiert.
Als wäre er vorbereitet.
Die einzigen handfesten Spuren: Fußabdrücke im Schnee. Größe 45. Marke bekannt. Besitzer unbekannt.
Mehr nicht.
Irgendwann reichte es. Die Frauen organisierten sich. Redeten miteinander. Verglichen Erlebnisse. Was vorher wie Einzelfälle wirkte, ergab plötzlich ein Muster. Eine Petition entstand. 18 Unterschriften. In einem Dorf dieser Größe ein klares Signal.
Nicht aus Wut.
Aus Erschöpfung.
„Wir sind müde“, sagte eine von ihnen. Und meinte nicht nur den Schlafmangel.
Die Ermittlungen laufen inzwischen offiziell. Der Tatbestand: Gewalt gegen besonders schutzbedürftige Personen. Ein schweres Wort für eine Tat ohne sichtbare Verletzungen. Doch wer glaubt, Angst hinterlasse keine Spuren, hat noch nie Nacht für Nacht auf ein Geräusch gewartet.
Psychischer Druck verändert Menschen. Er frisst Routinen. Er macht misstrauisch. Er isoliert.
Einige Frauen verlassen abends kaum noch das Haus. Andere schlafen bei Verwandten. Wieder andere bleiben — aus Trotz, aus Bindung, aus Liebe zu ihrem Zuhause.
Was würden Sie tun?
Im Dorf selbst zeigt sich ein Riss. Jüngere Einwohner, die spät heimkommen oder nachts arbeiten, bekommen wenig mit. Für sie bleibt alles ruhig. Andere winken ab. „So etwas gab es früher auch.“
Doch früher hatte man nicht das Gefühl, gezielt ausgewählt zu sein.
Und genau das macht den Unterschied.
Goudelin steht plötzlich für mehr als einen rätselhaften Fall. Es steht für eine Frage, die viele ländliche Regionen betrifft: Wer schützt jene, die leise leiden? Wer hört zu, wenn nichts kaputtgeht, aber alles ins Wanken gerät?
Die Frauen verlangen keine Sensation. Kein Medienrummel. Sie wollen Ruhe. Schlaf. Normalität.
Eigentlich nichts Besonderes.
Manchmal sitzt eine von ihnen nachts am Küchentisch, die Hände um eine Tasse Tee gelegt, und wartet. Nicht auf den Klopfer. Sondern darauf, dass nichts passiert. Dass die Nacht beweist, dass sie auch anders kann.
Manchmal klappt das.
Manchmal nicht.
Und irgendwo draußen, zwischen Hecken und Feldwegen, bleibt die Frage offen, die niemand laut ausspricht — aber alle denken: Hört er irgendwann auf? Oder wartet er nur?
Goudelin lebt weiter. Der Bäcker öffnet. Die Kirche läutet. Kinder fahren mit dem Rad zur Schule. Und doch trägt jeder Tag einen Schatten, der erst abends sichtbar wird.
Ein Dorf, das gelernt hat, dass Angst nicht laut sein muss, um alles zu verändern.
Ein Artikel von M. Legrand
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