Die Debatte um den Begriff Français de souche – zu Deutsch etwa „Franzose aus altem Stamm“ – ist in Frankreich erneut aufgeflammt. Ausgelöst wurde sie durch eine pointierte Aussage der Historikerin und Wissenschaftskommunikatorin Manon Bril, die das Konzept in einem Interview mit France 24 als „historisch jung“ und „wissenschaftlich unbegründet“ bezeichnete. Ihre Intervention fällt nicht zufällig in eine Zeit, in der das französische Selbstverständnis erneut auf dem Prüfstand steht – zwischen laizistischer Republik und identitätspolitischem Druck von links wie rechts. Brils Beitrag ist ein Anlass zur nüchternen Analyse eines Begriffs, der häufig als Argument für kulturelle Abgrenzung herangezogen wird, ohne dass seine inhaltliche Leere hinreichend beleuchtet wird.
Ein schillernder Begriff ohne wissenschaftliche Substanz
Was wie ein festgefügter Identitätsmarker klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als diffuse Projektion. Weder in der Demographie noch in der Genetik oder Anthropologie existiert eine anerkannte Definition dessen, was einen „Franzose aus altem Stamm“ objektiv auszeichnen würde. Der Begriff ist kein demographisches Faktum, sondern ein ideologisches Konstrukt. Zwar wurde er vereinzelt in amtlichen Kontexten verwendet – etwa vom französischen Institut national d’études démographiques (INED) Anfang der 1990er-Jahre –, doch stets als rein methodische Kategorie: gemeint waren dabei Personen, die in Frankreich geboren wurden und deren Eltern ebenfalls dort geboren wurden. Eine Aussage über „Wesen“ oder „Wurzeln“ wurde dabei nie getroffen.
Die Wissenschaft kennt keine „ethnische Reinheit“ im europäischen Kontext. Studien zur Populationsgenetik belegen im Gegenteil, dass Migration, Vermischung und kultureller Wandel konstitutiv für die Entwicklung europäischer – und damit auch französischer – Gesellschaften sind. Der Versuch, daraus ein exklusives Identitätsmerkmal zu destillieren, ist nicht nur wissenschaftlich unbegründet, sondern ignoriert die historische Realität jahrhundertelanger Mobilität.
Die ideologische Herkunft des Begriffs
Historisch betrachtet ist der Ausdruck Français de souche keine genuin republikanische Kategorie, sondern entstammt eher dem Arsenal nationalistischer Rhetorik des 19. und 20. Jahrhunderts. Intellektuelle wie Maurice Barrès propagierten damals ein Verständnis von nationaler Zugehörigkeit, das auf Abstammung, Religion und vermeintlicher kultureller Tiefe beruhte – oft im Gegensatz zur universalistischen Tradition der Revolution von 1789. Spätestens seit den 1980er-Jahren wurde der Begriff verstärkt von rechtsextremen Kräften wie dem Front National (später Rassemblement National) aufgegriffen, um eine identitäre Linie zwischen „Einheimischen“ und „Zugewanderten“ zu ziehen.
Diese politische Instrumentalisierung ist bis heute virulent. In Debatten um Einwanderung, Integration oder nationale Identität dient Français de souche als impliziter Maßstab – ein unklar definierter Referenzpunkt, gegen den sich „die Anderen“ abzugrenzen hätten. Doch gerade diese Unschärfe macht den Begriff anfällig für Missbrauch. Er suggeriert kulturelle und biologische Kontinuität, wo in Wahrheit Wandel, Hybridität und politische Aushandlung dominieren.
Rechtlich nicht existent, gesellschaftlich wirksam
Auch juristisch hat der Begriff keinen Bestand. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2015 stellte der französische Kassationshof klar, dass die Rede von „Franzosen aus altem Stamm“ keine Grundlage für rechtliche Differenzierung biete. Weder sei er historisch oder biologisch eindeutig fassbar, noch lasse er sich auf soziologische Kriterien stützen. Entscheidend ist, was auch renommierte Demographen wie Hervé Le Bras immer wieder betonen: Die Vorstellung einer abgeschlossenen nationalen Linie widerspricht dem empirischen Befund. Schon nach wenigen Jahrhunderten verschwimmen genealogische Herkunftslinien derart, dass praktisch alle heutigen Franzosen – ebenso wie Deutsche oder Italiener – auch von Zugewanderten abstammen.
Gleichwohl bleibt die rhetorische Macht des Begriffs ungebrochen. Seine Wirkung liegt weniger in klaren Definitionen als in der emotionalen Resonanz, die er in einem politisch aufgeheizten Klima entfaltet. Er vermittelt ein Gefühl von kultureller Homogenität und kollektiver Zugehörigkeit, das in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung besonders attraktiv erscheint – allerdings zu einem hohen Preis: der Exklusion jener, die nicht in dieses Schema passen.
Die Notwendigkeit sprachlicher Klarheit
Manon Brils Hinweis auf die wissenschaftliche Fragwürdigkeit des Begriffs ist mehr als eine akademische Randbemerkung. In einem politischen Diskurs, der zunehmend von identitären Frontstellungen geprägt ist, verdient die sprachliche Präzision besondere Aufmerksamkeit. Begriffe wie Français de souche sind keine neutralen Beschreibungen, sondern normierende Etiketten mit gesellschaftlicher Sprengkraft. Ihre Dekonstruktion bedeutet nicht, kulturelle Unterschiede zu negieren, sondern sie differenzierter und im Lichte demokratischer Prinzipien zu analysieren.
Gerade eine republikanische Gesellschaft wie Frankreich, die sich auf Universalismus, Gleichheit und Laizität beruft, sollte sich davor hüten, Begriffe zu verwenden, die diesen Grundprinzipien widersprechen. Die Diskussion um Français de souche zeigt, wie tief Sprache in politische Wirklichkeit eingreift – und wie notwendig es ist, ihre ideologischen Implikationen offen zu legen. Brils Intervention ist daher nicht bloß ein mediales Statement, sondern ein Beitrag zur geistigen Hygiene eines aufgeklärten Diskurses. Wer an der Rationalität des öffentlichen Raums festhalten will, sollte bei der Sprache beginnen.
Autor: Andreas M. Brucker
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