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Fünf Jahrzehnte nach der Legalisierung der Abtreibung vollzieht Frankreich einen historischen Akt der rechtlichen und moralischen Anerkennung: Das Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das Frauen rehabilitiert, die vor 1975 wegen eines Schwangerschaftsabbruchs strafrechtlich verfolgt wurden. Der Schritt ist Ausdruck einer umfassenderen Erinnerungspolitik – und ein Signal in einer Zeit, in der das Recht auf Abtreibung international unter Druck gerät.


Ein Akt der späten Gerechtigkeit

Am 18. Dezember 2025 verabschiedete die französische Nationalversammlung einstimmig ein Gesetz, das die strafrechtliche Verurteilung von Frauen wegen Abtreibung vor Inkrafttreten der sogenannten loi Veil im Jahr 1975 offiziell aufhebt. Die Regelung betrifft auch Personen – zumeist Ärztinnen, Hebammen oder Helfer –, die an den damals illegalen Eingriffen beteiligt waren.

Die Maßnahme ist weniger ein Schritt der materiellen Wiedergutmachung als ein symbolischer Akt: Das Gesetz anerkennt, dass der französische Staat durch frühere Gesetzgebung die Grundrechte betroffener Frauen verletzt habe – insbesondere das Recht auf körperliche Selbstbestimmung, medizinische Versorgung und Informationsfreiheit.


Die Schatten der Vorzeit: Strafrecht und Schweigen

Bis in die 1970er-Jahre hinein war der Schwangerschaftsabbruch in Frankreich ein Straftatbestand – ein Erbe des repressiven Strafrechts des Vichy-Regimes. Zwischen 1942 und 1975 wurden tausende Frauen strafrechtlich verfolgt, einige zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. In besonders dramatischen Fällen kam es zu Todesfällen durch unsachgemäß durchgeführte Abtreibungen im Untergrund.



Die gesellschaftliche Stigmatisierung war dabei oft gravierender als die juristischen Konsequenzen. Viele Betroffene schwiegen aus Scham, andere verloren ihre berufliche Existenz oder wurden sozial ausgegrenzt. Erst die beharrliche Arbeit feministischer Bewegungen und prominente Fälle wie jener der jungen Angeklagten Marie-Claire Chevalier (1972) führten zu einem gesellschaftlichen Umdenken – und letztlich zur Gesetzesänderung von 1975, initiiert von der damaligen Gesundheitsministerin Simone Veil.


Der Inhalt des Gesetzes: Erinnerung institutionalisieren

Das nun verabschiedete Gesetz sieht keine pauschale finanzielle Entschädigung vor, sondern zielt auf eine offizielle Rehabilitierung im rechtlichen und kulturellen Sinne. Eine zentrale Maßnahme ist die Einrichtung einer unabhängigen nationalen Kommission, die beim Premierminister angesiedelt wird. Ihre Aufgaben umfassen:

  • die Erhebung und Archivierung von Einzelfällen und Urteilen,
  • die Sammlung von Zeitzeuginnenberichten,
  • die Förderung historischer und juristischer Forschung,
  • sowie die öffentliche Vermittlung dieser bislang wenig beachteten Vergangenheit.

Damit wird ein Prozess angestoßen, der über das symbolische Gedenken hinausgeht – hin zu einer langfristigen Auseinandersetzung mit der Rolle des Staates in der Reproduktion sozialer Ungleichheit.


Breite politische Unterstützung – vereinzelt kritische Stimmen

Auffällig an der Verabschiedung des Gesetzes ist der überparteiliche Konsens: Sowohl die Regierungsmehrheit als auch Parteien der linken und konservativen Opposition stimmten dem Entwurf zu. Die linke Abgeordnete Mathilde Panot (La France Insoumise) sprach von einem „Akt historischer Gerechtigkeit“ und einem „späten, aber notwendigen Schritt zur Wiederherstellung der Würde“ der Betroffenen.

Feministische Organisationen und Menschenrechtsgruppen begrüßten den Schritt ebenfalls. Sie betonen jedoch, dass es nicht allein um Erinnerung gehe: Die Rehabilitierung sei ein Signal für den bleibenden politischen Kampf um reproduktive Rechte.

Kritik kam hingegen von juristischer Seite: Der Verzicht auf individuelle Wiedergutmachung könne als unzureichend empfunden werden, insbesondere für noch lebende Betroffene, deren Leben durch staatliche Repression nachhaltig beschädigt wurde. Auch die konkrete Ausgestaltung der Kommissionsarbeit – insbesondere hinsichtlich Zugang zu Justizarchiven – bleibt eine offene Frage.


Frankreichs Weg im internationalen Kontext

Die französische Initiative hebt sich ab in einer Zeit, in der das Recht auf Abtreibung weltweit unter Druck gerät. In den USA hat die Entscheidung des Supreme Court im Jahr 2022, Roe v. Wade aufzuheben, zu weitreichenden Einschränkungen geführt. Auch in mehreren EU-Mitgliedsstaaten – etwa Polen oder Ungarn – steht das Selbstbestimmungsrecht der Frau zunehmend zur Disposition.

Frankreich dagegen hat sich in den letzten Jahren klar positioniert: 2024 wurde das Recht auf Abtreibung als Grundrecht in die französische Verfassung aufgenommen. Präsident Emmanuel Macron hatte diesen Schritt als Reaktion auf internationale Rückschritte im Bereich der Frauenrechte angekündigt – mit dem erklärten Ziel, Frankreich zur „Schutzmacht weiblicher Selbstbestimmung“ zu machen.


Die jetzt beschlossene Rehabilitierung ist damit nicht nur ein symbolischer Akt der Vergangenheitsbewältigung, sondern Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Narrativs: jenes einer säkularen, auf Gleichheit beruhenden Republik, die auch aus ihrem eigenen historischen Unrecht Konsequenzen zieht. In einer Zeit, in der Errungenschaften der Moderne zunehmend unter ideologischen Beschuss geraten, gewinnt diese Rückschau ihre politische Sprengkraft gerade aus ihrer Selbstverständlichkeit.

Autor: Andreas M. Brucker

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