Tag & Nacht


Man stelle sich das einmal vor. Da sitzt jemand abends auf dem Sofa, vielleicht mit einem Glas billigem Rotwein, vielleicht mit der letzten Hoffnung auf ein kleines Wunder im Herzen, klickt sich durch eine Online-Plattform, die Großes verspricht: Gemeinschaft, Solidarität, ein bisschen Nervenkitzel und – ja, warum nicht – das Glück. Loto für den guten Zweck. Spielen und dabei helfen. Klingt sauber, riecht nach Vereinsheim, nach Tombola, nach Kuchenverkauf für die Jugendmannschaft. Und dann landet man plötzlich nicht im Himmel der Nächstenliebe, sondern im Vorhof der ganz gewöhnlichen Gier.

Der Schauplatz dieses modernen Märchens liegt im sonnigen Süden Frankreichs, im Département Gard, genauer gesagt in Nîmes. Eine Gegend, die sonst für römische Arenen, Zikadengesang und Pastis bekannt ist. Nun also auch für ein Online-Lotto, das sich „Maya Loto“ nennt und offenbar weniger Maya-Kalender als Monopoly-Spielbrett war. Einer gewinnt immer. Die Frage ist nur: Wer?

Vierzehn Millionen Euro. Man muss diese Zahl einmal langsam aussprechen, vielleicht zweimal, um sie wirken zu lassen. Vierzehn. Millionen. Euro. So viel Geld haben Menschen eingesetzt, Klick für Klick, Hoffnung für Hoffnung. Und am Ende sollen davon knapp 943.700 Euro tatsächlich bei den angeblich begünstigten Vereinen angekommen sein. Der Rest? Nun ja, der scheint einen sehr privaten Weg genommen zu haben. Richtung Luxusautos. Richtung Wohnimmobilie. Richtung „Ups, da war wohl noch was übrig“.

Man könnte jetzt nüchtern analysieren, Paragraphen zitieren, von illegalen Glücksspielen sprechen, von Betrug, von Veruntreuung. Alles korrekt, alles wichtig. Aber eigentlich geht es um etwas anderes. Es geht um dieses ganz spezielle Gift, das wirkt, wenn jemand nicht einfach Geld stiehlt, sondern Hoffnung. Wenn er die Figur des Ehrenamtlichen, des Vereinsmenschen, des Gutmeinenden missbraucht wie ein schlecht sitzendes Kostüm auf einem Maskenball. Heute Philanthrop, morgen Angeklagter.



Der Gründer von „Maya Loto“ sitzt nun vor Gericht. Vier Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft, zwei davon unbedingt. Dazu die Konfiszierung der schönen Dinge, die das Spiel so abgeworfen hat, und eine Geldstrafe. Klingt hart. Klingt gerecht. Klingt nach Ordnung im Chaos. Und trotzdem bleibt ein schaler Nachgeschmack. Denn selbst wenn am Ende alles eingezogen wird – das Vertrauen, das hier verspielt wurde, taucht in keiner Asservatenliste auf.

Ironischerweise funktioniert diese Geschichte nur, weil sie so banal ist. Kein hochkomplexes Finanzkonstrukt, keine Offshore-Kaskaden, kein digitaler Nebel. Sondern ein altes, bewährtes Prinzip: Nimm etwas, das Menschen mögen – Glücksspiel. Verziere es mit etwas, das sie respektieren – Vereine, Engagement, Solidarität. Und kassiere. Es ist fast schon beeindruckend in seiner Dreistigkeit. Fast.

Man fragt sich unweigerlich: Wie viele Klicks braucht es, bis aus Gutgläubigkeit Dummheit wird? Oder andersherum: Wie raffiniert muss ein System sein, damit es selbst bei wohlmeinenden Menschen nicht alle Alarmglocken schrillen lässt? Online-Lotto für den guten Zweck. Klar doch. Und der Weihnachtsmann kommt per Newsletter.

Natürlich sind die Geschädigten in diesem Fall nicht nur abstrakte „Teilnehmer“. Es sind Vereine, Initiativen, Menschen, die auf Unterstützung gehofft haben. Sportclubs, Sozialprojekte, kleine Strukturen, die jeden Euro zweimal umdrehen müssen. Für sie ist das kein sarkastischer Kommentar, sondern ein reales Loch in der Kasse. Da fehlen Trikots, Ausflüge, vielleicht sogar Stellen. Und irgendwo steht ein Auto, das genau davon bezahlt wurde. Toll.

Der Zyniker könnte sagen: Selber schuld. Wer glaubt denn heute noch an selbstlose Online-Plattformen? Der Zyniker liegt bequem, aber falsch. Denn ohne ein Mindestmaß an Vertrauen funktioniert keine Gesellschaft. Wer dieses Vertrauen systematisch ausnutzt, richtet mehr Schaden an als jede kaputte Bilanz. Er sorgt dafür, dass beim nächsten Spendenaufruf der Finger zögert. Dass beim nächsten Vereinsfest das Portemonnaie zu bleibt. Und dass am Ende alle verlieren – außer dem, der längst weitergezogen ist.

Was bleibt, ist ein bitteres Lehrstück über unsere Zeit. Über die Sehnsucht nach dem schnellen Glück. Über die Bereitschaft, mit ein paar Klicks Teil von etwas Gutem zu sein. Und über Menschen, die genau das als Geschäftsmodell begreifen. Betrogen und beraubt auf der Suche nach dem Glück – das ist keine Schlagzeile, das ist ein Gefühl. Und es sitzt tief.

Vielleicht wird das Gericht ein klares Urteil fällen. Vielleicht wird der Fall abschrecken. Vielleicht. Sicher ist nur: Das nächste „Maya Loto“ ist nur einen cleveren Namen entfernt. Und wir alle sitzen wieder auf dem Sofa, mit dem Glas Rotwein, und überlegen, ob wir noch einmal klicken. Man kann es Glück nennen. Oder Naivität. Oder einfach menschlich.

Ein Kommentar von Andreas M. Brucker

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