Am Montag, dem 10. November 2025, um exakt 11:31 Uhr beginnt für viele Französinnen das symbolische Jahresende – zumindest in finanzieller Hinsicht. Ab diesem Zeitpunkt, so rechnet es die feministische Newsletter-Plattform Les Glorieuses vor, arbeiten Frauen in Frankreich „gratis“. Der sogenannte „Jour Z“ markiert jährlich den Moment, ab dem die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern rechnerisch den Rest des Jahres in unbezahlte Arbeit für Frauen verwandelt. Doch hinter dem medial wirksamen Stichtag steckt eine komplexe Debatte über Gleichstellung, wirtschaftliche Gerechtigkeit und politische Wirksamkeit symbolischer Maßnahmen.
Wie wird der „Jour Z“ berechnet?
Grundlage für den symbolischen Aktionszeitpunkt sind Zahlen des französischen Statistikamts INSEE. Für das Jahr 2023 weist es eine durchschnittliche Lohnlücke von 14,2 % zwischen vollzeitbeschäftigten Männern und Frauen aus. Diese Differenz bedeutet: Wenn ein Mann für seine Jahresarbeit das Gehalt X erhält, bekommt eine Frau mit vergleichbarem Beschäftigungsumfang im Schnitt nur 85,8 % davon, also 0,858 × X.
Rechnet man diese Differenz in Zeit um, so ergibt sich ein symbolischer Punkt im Kalender: Die Summe, die eine Frau bis zu diesem Datum verdient hat, entspricht dem Gehalt eines Mannes. Ab dem „Jour Z“ beginnt damit rechnerisch das „unbezahlte“ Arbeiten. Im Jahr 2025 fällt dieser Moment auf den 10. November, um 11:31 Uhr – fünf Minuten später als im Vorjahr. Diese Verschiebung illustriert einen langsamen, aber stetigen Fortschritt.
Was dieser Tag zeigen soll – und was nicht
Die Initiatorinnen von Les Glorieuses betonen selbst, dass es sich beim „Jour Z“ um ein bewusst vereinfachtes Symbol handelt. Der Aktionstag will Aufmerksamkeit schaffen für ein strukturelles Problem, das in vielen Dimensionen wirksam ist: ungleiche Bezahlung, ungleiche Aufstiegschancen, ungleiche Bewertung von Berufen. Dabei wird bewusst auf Komplexitätsreduktion gesetzt – etwa indem nur Vollzeitgehälter verglichen werden, unabhängig von Hierarchie, Branche oder Berufsjahren.
Diese Vereinfachung ist einerseits notwendig, um medial durchzudringen. Andererseits lädt sie zur Kritik ein. Denn in der öffentlichen Debatte geht mit dem Stichtag oft die Vorstellung einher, dass Frauen in gleichen Positionen grundsätzlich weniger verdienten – was so nicht haltbar ist. Studien zeigen, dass bei vergleichbarer Qualifikation, Position und Arbeitszeit die Lohnlücke deutlich kleiner wird, teils auf unter 5 % sinkt. Der „Jour Z“ veranschaulicht also eher strukturelle Durchschnittsunterschiede als individuelle Diskriminierung.
Politische Forderungen jenseits des Symbols
Begleitet wird der Aktionstag von konkreten Forderungen. Die Hauptanliegen der Aktivistinnen:
- Verpflichtende Lohntransparenz: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen Zugang zu Gehaltsstrukturen erhalten, um Diskrepanzen offenzulegen und Druck auf Unternehmen auszuüben.
- Aufwertung von frauendominierten Berufen: Tätigkeiten im sozialen, pflegerischen oder erzieherischen Bereich – in denen Frauen überrepräsentiert sind – sollen besser vergütet und in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung anerkannt werden. Öffentliche Aufträge oder Förderungen könnten dabei an nachweisliche Gleichstellungsfortschritte geknüpft werden.
Diese Forderungen sind nicht neu, gewinnen aber durch europäische Gesetzesinitiativen an Rückenwind. So soll die EU-Richtlinie zur Lohntransparenz bis spätestens Juni 2026 in nationales Recht umgesetzt werden. Sie sieht unter anderem Berichtspflichten für Unternehmen ab einer bestimmten Größe vor – ein Instrument, das die französische Regierung mit dem bestehenden index d’égalité professionnelle bereits partiell umgesetzt hat.
Frankreich im europäischen Vergleich
Die französische Gleichstellungspolitik hat in den letzten Jahren Fortschritte erzielt. Der seit 2019 eingeführte Gleichstellungsindex verpflichtet Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitenden, jährlich anhand eines Punktesystems Auskunft über ihre Gleichstellungsleistung zu geben – inklusive Sanktionen bei schlechten Werten. Dennoch bleibt die Lohnlücke hartnäckig bestehen.
Im europäischen Vergleich liegt Frankreich im Mittelfeld. Deutschland weist laut Eurostat (2023) eine unbereinigte Lohnlücke von rund 18 % auf – eine der höchsten in der EU. Länder wie Italien, Belgien oder Luxemburg stehen deutlich besser da. Allerdings spielt auch die Erwerbsstruktur eine Rolle: In Frankreich ist der Anteil weiblicher Führungskräfte höher als in Deutschland, gleichzeitig sind atypische Beschäftigungen – etwa Minijobs – seltener.
Wo liegen die strukturellen Ursachen?
Eine zentrale Ursache der Lohnlücke liegt in der vertikalen und horizontalen Segregation des Arbeitsmarkts: Frauen sind überproportional in Branchen mit geringerem Lohnniveau vertreten (z. B. Pflege, Bildung, Einzelhandel) und seltener in Führungspositionen oder technischen Berufen anzutreffen. Hinzu kommt die hohe Teilzeitquote unter Frauen, häufig Folge ungleicher Arbeitsteilung im familiären Bereich.
Auch die Bewertung von Tätigkeiten spielt eine Rolle: Soziale, empathische oder pflegerische Kompetenzen, die in frauendominierten Berufen zentral sind, werden systematisch geringer entlohnt als technische oder führungsbezogene Fähigkeiten – ein strukturelles Erbe industrieller Arbeitsmarktmodelle.
Zudem ist Frankreich, trotz laizistischer und egalitärer Selbstdarstellung, kein Vorreiter in Sachen Care-Arbeit: Die Kinderbetreuung ist zwar vergleichsweise gut ausgebaut, doch stereotype Rollenmuster in Erziehung, Haushalt und Karrierewahl halten sich hartnäckig.
Frankreich hat sich mit dem „Jour Z“ ein Symbol geschaffen, das jährlich an diese tief verwurzelten Ungleichheiten erinnert – plakativ, aber nicht trivial. Seine eigentliche Stärke liegt weniger in der mathematischen Exaktheit als in seiner Mobilisierungskraft. Die wiederholte Sichtbarmachung der Ungleichheit schafft politischen Druck – und hält die Debatte lebendig.
Die Herausforderung bleibt: Symbolik in konkrete Veränderungen zu überführen. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob die Kombination aus europäischer Regulierung, nationalem Monitoring und zivilgesellschaftlichem Engagement Wirkung entfaltet – oder ob der „Jour Z“ auf absehbare Zeit ein fixer Bestandteil des französischen Kalenders bleiben wird.
Autor: Andreas M. Brucker
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