Die Machtverhältnisse in Syrien haben sich radikal verschoben. Mit dem Fall des Regimes von Baschar al-Assad ist Abou Mohammad al-Joulani, der Anführer der islamistischen Gruppierung HTS (Hay’at Tahrir al-Sham), zur zentralen Figur des Landes aufgestiegen. Doch wer ist dieser Mann, der aus den Wirren des Bürgerkriegs als Sieger hervorgegangen ist?
Vom Dschihadisten zum politischen Führer
Abou Mohammad al-Joulani ist kein unbeschriebenes Blatt. Seine Geschichte beginnt in den frühen 2000er-Jahren, als er sich im Jahr 2003 dem Kampf gegen die US-Besatzung im Irak anschließt. Dort wird er verhaftet und in das berüchtigte Gefängnis von Abu Ghraib gebracht – eine Erfahrung, die ihn prägt und sein Netzwerk in der islamistischen Szene stärkt. Es war in diesen Jahren, dass Joulani Beziehungen zu führenden Köpfen des internationalen Terrorismus knüpfte.
Später schließt er sich Al-Qaida an und kehrt während des syrischen Bürgerkriegs nach Syrien zurück. Seine Gruppierung HTS, ursprünglich ein Ableger von Al-Qaida, hat inzwischen die Kontrolle über die Region Idlib übernommen und spielt eine zentrale Rolle im Machtgefüge des Landes.
Eine Machtübernahme mit Taktgefühl?
Nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes war die erste Überraschung der versöhnliche Ton, den Joulani anschlug. Der scheidende Premierminister Syriens traf sich mit ihm, um eine Übergabe der Macht zu koordinieren. In einem Statement der Rebellen hieß es, die Zusammenarbeit mit Teilen der alten Regierung sei notwendig. „Wir haben noch Bedarf am alten Regierungssystem“, erklärte Joulani selbst.
Ein Pragmatiker also? Vielleicht. Oder schlicht ein Mann, der weiß, dass Syrien nach über einem Jahrzehnt Krieg eine fragile Stabilität braucht.
Doch es gibt auch Schattenseiten: HTS wird beschuldigt, zahlreiche Kriegsverbrechen begangen zu haben, und Joulani selbst ist vom FBI mit einem Kopfgeld von zehn Millionen Dollar belegt.
Wandel im Stil, aber was steckt dahinter?
Joulani scheint sich bewusst zu sein, dass er sein Image ändern muss, um Akzeptanz zu gewinnen. Der einstige Kämpfer mit Turban und langer Barttracht hat sich optisch und rhetorisch gewandelt. Heute tritt er gepflegter auf, mit gestutztem Bart und einem gemäßigten Tonfall – zumindest nach außen. Doch wie tief geht dieser Wandel?
Die großen Fragen bleiben: Wird Joulani den Minderheiten Syriens, wie den Kurden und Christen, ein sicheres Leben garantieren können? Seine Vergangenheit lässt daran Zweifel aufkommen.
Was bedeutet das für die Zukunft Syriens?
Die Menschen in Syrien haben genug durchgemacht – Krieg, Zerstörung und Vertreibung. Ein weiteres Kapitel des Konflikts, geprägt von neuen Machthabern, könnte das Land noch weiter spalten. Doch es gibt auch Hoffnung. Könnte Joulanis politische Wende tatsächlich ein Versuch sein, Syrien zu stabilisieren?
Eins ist klar: Die Welt wird genau hinschauen. Wird Joulani der neue Despot, oder schlägt er einen anderen Weg ein?
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