Ein Satz, der schockiert und doch eine längst bekannte Wahrheit bestätigt: „Ja, ich erkenne die Taten an.“ Mit diesen Worten gestand Joël Le Scouarnec, ehemaliger Chirurg, vor dem Schwurgericht im bretonischen Morbihan die sexuelle Gewalt an 299 Menschen – meist Kinder, oft Patienten, immer wehrlos. Es ist das erste vollständige Geständnis seit Beginn des Prozesses am 24. Februar. Und es verändert alles.
Vier Wochen lang wurde verhandelt, gefragt, gestritten, geschwiegen. Bis zu diesem Moment. Der Anwalt des Angeklagten, Maxime Teissier, sprach anschließend von einem „Moment der Wahrheit und der Gerechtigkeit“. Ein Satz, der schwer wiegt – nicht nur für die Justiz, sondern vor allem für die Opfer.
Jahrelang hatte Le Scouarnec die Gräueltaten nur häppchenweise eingeräumt. Mal hier, mal da, nie vollständig. Nun also das klare Bekenntnis – und mit ihm die Erkenntnis, dass die Justiz noch tiefer bohren muss.
Denn die Ermittler gehen davon aus, dass es noch weit mehr Opfer geben könnte.
Kaum war das Geständnis öffentlich, kündigte die Staatsanwaltschaft von Lorient eine neue Voruntersuchung an. Ziel: weitere bislang nicht identifizierte Opfer ausfindig machen. Auch das Berufungsgericht in Rennes bestätigte am Donnerstag diese Entscheidung. Le Scouarnec selbst zeigte sich laut seinen Verteidigern bereit, sämtliche rechtlichen Konsequenzen zu tragen. Er akzeptiere das Urteil der Gesellschaft – so weit, so theoretisch.
Was bedeutet dieses Geständnis für die Betroffenen?
Für viele ist es ein kleiner Schritt in Richtung innerer Ruhe. Kein Leugnen mehr, kein juristisches Ringen um jeden einzelnen Fall. „Es wird die Anhörungen der Opfer erleichtern“, sagten mehrere Nebenklageanwälte gegenüber lokalen Medien. Eine Aussage, die in ihrer Tragweite kaum zu ermessen ist. Denn jede Anhörung ist ein Kraftakt – und für viele eine quälende Wiederholung des Traumas.
Der Angeklagte selbst sprach während des Prozesses von „abscheulichen Taten“. Worte, die blass wirken angesichts dessen, was er Kindern und Jugendlichen angetan hat. Seine Opfer waren meist kaum älter als zehn Jahre – ausgeliefert, allein, im Vertrauen auf medizinische Hilfe.
Der Missbrauch geschah über Jahrzehnte, in verschiedenen Kliniken. Und obwohl es immer wieder Hinweise gab, blieb vieles unentdeckt oder wurde übergangen. Was hier verhandelt wird, ist nicht nur ein individueller Abgrund, sondern auch ein systemisches Versagen.
Wie konnte ein Mensch, dem die Gesellschaft so viel Vertrauen entgegenbrachte, so lange unbehelligt handeln?
Die Antwort liegt irgendwo zwischen Akten, Personalakten, Dienstplänen – und zwischen den Zeilen einer Kultur des Wegsehens. Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich auszumalen, wie oft Fragen unter den Teppich gekehrt, Andeutungen ignoriert oder Opfer nicht ernst genommen wurden.
Nun also der Versuch der Aufarbeitung – juristisch, aber auch moralisch. Dass Le Scouarnec nun alles zugibt, ist keine Gnade. Es ist überfällig. Und vielleicht – ein letzter Versuch, doch noch ein Mindestmaß an Verantwortung zu übernehmen. Ein Tropfen auf einem glühenden Stein.
Was bleibt, ist das Schweigen nach dem Geständnis.
Ein Schweigen, das schwerer wiegt als jedes Wort. Denn hinter jeder Zahl, jedem Fall, jedem Namen steht ein Mensch mit einem zerstörten Stück Leben.
Von C. Hatty
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