Tag & Nacht




Es gibt Grundsätze in einer Demokratie, die stehen nicht zur Debatte – selbst wenn die Emotionen überkochen. Gerade deshalb lohnt es sich, einen klaren Blick auf den Fall Marine Le Pen zu werfen. Nicht, um Partei zu ergreifen, sondern um die Frage zu stellen: Dürfen wir unter dem Druck der Straße über rechtsstaatliche Prinzipien verhandeln?

Ganz sicher nicht.

Ja, es ist ein valider Punkt, darüber nachzudenken, ob Strafen wie eine politische Unwählbarkeit tatsächlich schon vor dem Abschluss aller Rechtsmittel in Kraft treten sollten. Denn was, wenn sich ein Urteil in zweiter oder dritter Instanz doch als fehlerhaft entpuppt? Dann stünde nicht nur die Person, sondern das ganze Justizsystem beschädigt da – wie ein Haus, dem plötzlich das Fundament fehlt.

Aber – und das ist entscheidend – ein solch tiefgreifender Eingriff in das französische Straf- und Wahlrecht darf niemals im Schatten eines konkreten Falls entschieden werden. Schon gar nicht, wenn dieser Fall eine so polarisierende Figur wie Marine Le Pen betrifft.

Denn dann vermischt sich plötzlich das Prinzip mit der Person. Und das ist brandgefährlich.

Man stelle sich vor: Wir ändern die Spielregeln nicht aus rationaler Überzeugung, sondern weil eine politische Bewegung laut genug schreit. Weil Demonstranten die Plätze der Hauptstadt füllen, weil Parteianhänger Druck machen, weil Parteifunktionäre von einer „Justizverschwörung“ fabulieren. Wollen wir wirklich ein System, das dem Druck der Straße weicht?

Die Antwort muss lauten: Niemals.

Rechtsstaatlichkeit bedeutet auch, sich Zeit zu nehmen. Innehalten. Prüfen. Diskutieren – sachlich, ruhig, juristisch fundiert. Nicht mit Megafonen, sondern mit Verstand. Wer jetzt unter dem Eindruck von Le Pens Urteil eine Reform anstößt, läuft Gefahr, das Recht der politischen Opportunität zu opfern.

Und dann?

Dann öffnen wir Türen, die besser verschlossen bleiben. Türen, durch die künftig auch andere marschieren könnten – mit weniger demokratischen Absichten, aber dem gleichen Anspruch, die Gesetze im eigenen Sinne zu beugen.

Die Frage, ob ein Urteil erst nach Ausschöpfung aller Instanzen Wirkung zeigen soll, ist berechtigt. Sie verdient es, diskutiert zu werden. Aber nicht heute, nicht jetzt, und vor allem nicht wegen einer einzigen Person.

Denn Recht braucht Abstand. Und Haltung.

Ein Kommentar von M.A.B.

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