Ein Wald, der wie ein ruhiger Ozean wirkt – Wellen aus Nadelgrün, so weit das Auge reicht. Wer durch die Landes de Gascogne streift, merkt schnell, wie sehr dieser scheinbar unerschöpfliche Raum Teil der regionalen Seele geworden ist. Doch seit einigen Wochen hängt über diesem grünen Meer ein Schatten, kaum sichtbar und doch von zerstörerischer Macht: der Nematode du pin, ein winziger Fadenwurm, der innerhalb eines Monats aus einem kräftigen Baum ein Stück totes Holz macht.
An einem Samstagnachmittag, irgendwo zwischen Gironde und den Pyrenäen, spazieren ein paar Freundinnen unter hohen Stämmen entlang, lachen, erinnern sich an improvisierte Hütten aus Kindertagen. Für viele Menschen dort ist der Wald kein Hintergrund, sondern Begleiter. Gerade deshalb trifft die neue Gefahr nicht nur eine Landschaft, sondern ein Lebensgefühl.
Wer die Region kennt, weiß: Diese Wälder sind nicht einfach gewachsen, sie wurden gebaut. Napoleon III. ordnete im 19. Jahrhundert an, in den sumpfigen Böden ein gigantisches Netz aus Pinus pinaster zu pflanzen – Baum an Baum, über 15.000 Quadratkilometer hinweg. Aus der Idee wurde eine Industrie, deren Herz jahrzehntelang im Takt der Harzgewinnung schlug, bevor moderne Holzverarbeitung den Ton übernahm. Heute hängt ein ganzer Wirtschaftszweig daran, über 30.000 Arbeitsplätze, vom Sägewerk bis zum Spielzeugmacher.
Man muss nur Yannick Bonaldi zuhören, Produktionsleiter beim berühmten Baumaterialienhersteller Kapla. Für ihn lebte der Erfolg der Marke immer im Einklang des maritimen Kiefers. Das Holz sei einzigartig, sagt er, mit einer Maserung, die fast künstlerisch wirkt. Andere Baumarten hätten den Test nicht bestanden. Hier, im Landes-Geflecht aus jahrzehntelanger Expertise und Handwerkstradition, scheint der Pin maritime unverzichtbar – so unverzichtbar wie Brot für die Bäckerei.
Umso heftiger wirkt der Schock, den die ersten verdächtigen Bäume in Soustons ausgelöst haben. Pierre Pecastaings, Bürgermeister einer der betroffenen Gemeinden, beschreibt den Moment wie einen Schlag. Die Landes, sagt er, stecken den Menschen im Blut. Und jetzt, wo die Stämme plötzlich fahl werden, Nadeln schlaff herabhängen, wächst die Angst, dass die vertraute Kulisse kippt.
Das Drama beginnt unscheinbar. Ein Baum trocknet schneller aus als gewöhnlich. Ein zweiter verliert seine Farbe. Erst wenn Proben genommen und im Labor untersucht werden, zeigt sich die Wahrheit: Der Nematode ist da – und zwar nicht im fernen Portugal oder Spanien, wo er schon seit Jahren wütet, sondern zum ersten Mal offiziell auf französischem Boden.
Der Wurm selbst ist harmlos für den Menschen, doch im Inneren eines Baumes wirkt er wie ein Saboteur. Er verhindert den Wassertransport, die Adern des Baumes verstopfen, die Krone stirbt ab. Übertragen wird er durch einen kleinen Bockkäfer, der in diesen Wäldern so selbstverständlich vorkommt wie Kiesel auf einem Feldweg. Ein Albtraum für Forstexperten, denn das bedeutet: Der Schädling reist kostenlos, weit, schnell.
Die Behörden reagieren sofort. Rund um den ersten Fund wird ein 500-Meter-Radius zur Tabuzone erklärt. Jeder Nadelbaum muss fallen, egal wie alt, egal wie gesund er aussieht – ein brachiales Vorgehen, aber das einzige, das als wirksam gilt. Darüber hinaus entsteht ein 20-Kilometer-Gürtel als Schutzpuffer, vier Jahre lang streng überwacht. So lange, sagt man, dauert es, die unsichtbare Gefahr wirklich einzufangen.
Für die Menschen, die mitten in dieser Zone arbeiten, fühlt sich das an wie ein Schnitt durch den Alltag. Holzfäller berichten, wie sie mitten in der Arbeit plötzlich stoppen mussten. Maschinen ausgeschaltet, Stämme liegengeblieben. Innerhalb weniger Tage verliert das Holz an Qualität, trocknet aus, wird leichter – und damit wertloser. Es ist, als würde man einem Rohstoff dabei zusehen, wie er verdunstet.
Das wirtschaftliche Echo ist gewaltig. Unternehmer klagen über Tausende Tonnen Holz, die auf den Böden liegen wie unerfüllte Versprechen. Für kleinere Betriebe, die ohnehin knapp kalkulieren, bedeutet das mehr als eine Delle im Jahresabschluss. Es bedroht ihre Existenz.
In einer traditionsreichen Sägewerk, nur wenige Kilometer vom Befallsgebiet entfernt, spricht Nathalie Lasserre mit stockender Stimme von der Möglichkeit, den Betrieb stilllegen zu müssen. Ohne gesundes Holz läuft nichts – weder die Sägen, noch in den Büchern. Man könne zwar weiter entfernte Lieferanten suchen, erklärt sie, doch dann drängen alle dorthin. Ein klassischer Engpass, der die Preise steigen lässt und kleine Betriebe schnell ins Abseits drängt.
Die 15 Beschäftigten dort schauen jeden Morgen auf den Hof und hoffen, dass der Lkw mit neuem Material ankommt. Bleibt er aus, droht Kurzarbeit. Ein Szenario, das man dort bisher nur aus Krisenberichten kannte, nicht aus dem eigenen Leben.
Und während all diese Fragen im Raum stehen, rattern die Motorsägen unermüdlich weiter. Die Forstleute haben nur wenige Wochen Zeit. Ein Wettlauf gegen ein Wesen, das man nicht sieht und das sich nur schwer aufhalten lässt. Es ist ein Wettlauf um die Zukunft eines Waldes, der nicht nur Holz liefert, sondern Identität.
Vielleicht liegt in dieser Krise auch ein Moment der Offenheit. Ein Wald, der gebaut wurde, muss nun geschützt werden. Und vielleicht beginnt genau jetzt die Debatte darüber, wie man ihn widerstandsfähiger macht – damit das grüne Meer der Landes auch in kommenden Generationen noch bis zum Horizont reicht.
Autor: Andreas M. Brucker
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