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Die französische Regierung will ihren neuen „Solidaritätspakt“ vorstellen. Der Sender Franceinfo veröffentlicht einen Überblick über alarmierende Indikatoren.

Nach mehreren Verzögerungen soll der neue Plan der Regierung zur Bekämpfung der Armut, der den Namen „Solidaritätspakt“ trägt, am Montag, dem 18. September, endlich vorgestellt werden. Vor dem Hintergrund der hohen Inflation, die seit Februar 2022 die Kaufkraft der Franzosen schmälert und durch den Krieg in der Ukraine bedingt ist, weckt die neue Strategie der Regierung zur Bekämpfung der Armut große Erwartungen. Dies gilt umso mehr, als sich mehrere Verbände in den letzten Monaten höchst alarmiert gezeigt haben. Auch wenn Wirtschaftsminister Bruno Le Maire „die Idee ablehnt, dass es eine Verarmung der französischen Gesellschaft gibt“, verschlechtern sich mehrere Indikatoren deutlich.

1: Die Quote der Einkommensarmut sinkt nicht.
Diese Quote entspricht der Anzahl der Haushalte, die einen Lebensstandard von weniger als 60 % des mittleren Lebensstandards der Bevölkerung besitzen, d. h. mindestens 1.102 Euro pro Monat für eine allein lebende Person und 2.314 Euro für ein Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren. Im Jahr 2019 befanden sich laut den Zahlen des amtlichen Statistikinstituts Insee 9,2 Millionen Menschen, d. h. fast 15 % der französischen Bevölkerung, in dieser Situation. Allerdings liegt die französische Einkommensarmutsquote, die im Durchschnitt niedriger ist als in der Europäischen Union (16,8 %), seit etwa zwanzig Jahren immer um die 14 %. Diese Stabilität spiegelt allerdings auch die Tatsache wider, dass es für einen Teil der französischen Bevölkerung unmöglich erscheint, aus der Armut herauszukommen. Eine Studie des Insee über die Entwicklung der Einkommen ein und derselben Person zwischen 2003 und 2019 zeigte, dass von den 20 % der wohlhabendsten und den 20 % der ärmsten Menschen zwei Drittel in der gleichen Kategorie geblieben sind.

Die Anfang September veröffentlichte Jahresbilanz des Secours populaire deutet allerdings auf eine Verschlechterung der monetären Situation vieler Franzosen hin. Demnach sind 60% der Befragten der Meinung, dass ihre Kaufkraft in den letzten drei Jahren spürbar gesunken ist. In diesem Jahr geben 18 % an, ihr Konto überziehen zu müssen, drei Prozentpunkte mehr als im Jahr 2022.

2: Mehr als einer von zehn Franzosen leidet unter materiellen Entbehrungen.
Die Quote der „materiellen und sozialen Entbehrung“ ist eine alternative Art, Armut zu messen, mit neueren Indikatoren. Sie betraf Anfang 2022 14% der Bevölkerung Frankreichs und damit den höchsten Stand seit der Einführung dieses Indikators im Jahr 2013, wie das Insee im Juli 2023 bekannt gegeben hat. Im Jahr 2020 erreichte dieser Anteil 13,4% und im Jahr 2013 12,4%.

Die Zahlen des Insee belegen, dass „die Entbehrungen, die am stärksten zugenommen haben, mit dem konjunkturellen Umfeld zusammenhängen“. So geben 10,2% der Haushalte an, dass sie ihre Wohnung nicht ausreichend heizen können, gegenüber 6,1% im Jahr 2021 und 5% im Jahr 2018. Das Insee sieht darin insbesondere die Auswirkungen des Preisanstiegs für Heizöl, „ein Heizstoff, den ärmere Haushalte stärker als andere nutzen“.

Anfang 2022 gaben bei einer Umfrage mehr Haushalte an, finanziell nicht in der Lage zu sein, gebrauchte Möbel zu ersetzen (26% gegenüber 24% Anfang 2020) oder jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder ein vegetarisches Äquivalent zu essen (9% gegenüber 7% Anfang 2020). Ebenso stieg der Anteil der Haushalte, die angaben, sich keine Woche Urlaub außerhalb des Hauses im Jahr leisten zu können (24% gegenüber 22% Anfang 2020).

Laut Insee hängt die Entbehrungsquote stark von der Zusammensetzung der Haushalte ab: Sie beträgt 6,8 % bei Paaren ohne Kinder, 15,8 % bei Alleinstehenden, steigt aber bei Alleinerziehenden auf 31,1 %. Sie hängt auch vom Wohnort ab: Bei Bewohnern ländlicher Gebiete, die höhere Energieausgaben haben, steigt die Entbehrungsquote im Vergleich zu 2020 am stärksten an.

3: Die Zahl der Empfänger der Hilfsorganisation „Restos du Coeur“ steigt explosionsartig an.
Angesichts der steigenden Verbraucherpreise beklagt die Hilfsorganisation „Restos du Coeur“ einen Anstieg der Zahl der neu registrierten Lebensmittelhilfeempfänger. Im Jahr 2023 erhielten bereits fast 1,3 Millionen Menschen von der Organisation verteilte Mahlzeiten, im ganzen Jahr 2022 waren es 1,1 Millionen.

Die Zahl der verteilten Mahlzeiten wird laut der Organisation, die 35 % der Nahrungsmittelhilfe in Frankreich leistet, bis zum Jahresende weiter steigen. Sie erwartet, dass sie im Jahr 2023 insgesamt fast 170 Millionen Mahlzeiten verteilen wird, was einem Anstieg von 30 Millionen im Vergleich zu 2022 entspricht. Der Präsident der mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontierten Organisation, Patrice Douret, kündigte an, dass die Restos du Coeur im nächsten Winter möglicherweise Bittsteller ablehnen müssten, und rief Unternehmen und die Regierung zu Spenden auf.

Die stetig steigende Nachfrage nach Lebensmittelhilfe betrifft nicht nur die von dem Schauspieler und Humoristen Coluche 1985 ins Leben gerufene Organisation, sondern auch Secours Populaire, die Banques Alimentaires oder das Rote Kreuz. „Alle diese Strukturen haben allein im ersten Quartal 2023 einen zusätzlichen Anstieg ihrer Empfänger zwischen 7 und 9 % festgestellt“, betonte Laurence Lepetit, Generaldelegierte von France Générosités, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

4: Mehr als 4 Millionen Menschen wohnen schlecht.
Vor dem Hintergrund steigender Immobilienpreise nimmt die Wohnungsnot in Frankreich zu. Dies stellte die Stiftung Abbé-Pierre in ihrem 28. Jahresbericht fest, der Anfang Februar veröffentlicht wurde. Sie schätzt, dass es im Jahr 2022 etwa 4,15 Millionen Menschen gab, die schlecht oder gar nicht in Wohnungen untergebracht sind.

Zu dieser alarmierenden Zahl kommen noch die Haushalte hinzu, die in einer überbelegten Wohnung leben oder aufgrund der steigenden Preise sich die Energiekosten nicht mehr leisten können. Nach Angaben der Stiftung Abbé-Pierre sind „fast 15 Millionen Menschen in der einen oder anderen Form von der Wohnungskrise betroffen“.

Die Stiftung Abbé-Pierre ist besorgt über den Mangel an tatsächlicher Hilfe und Hilfswillen, den die Regierungen bisher zeigten. „Seit 2017 haben die verschiedenen aufeinanderfolgenden Regierungen Desinteresse und mangelnde Sensibilität für das Thema gezeigt, indem sie eine Politik der Sparsamkeit betrieben haben. Es besteht eine regelrechte Besessenheit, in diesem Sektor Einsparungen zu erzielen“, erklärt Manuel Domergue, Direktor für Studien der Abbé-Pierre-Stiftung.


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