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Die Straßen von Washington, D.C., sind seit Mitte August von einem Anblick geprägt, der für die US-Hauptstadt ungewöhnlich und historisch bedeutsam ist: Tausende Nationalgardisten in Kampfmontur, ausgestattet mit M4-Karabinergewehren und M17-Pistolen, patrouillieren Seite an Seite mit der Polizei. Die Entscheidung von Präsident Donald Trump, am 11. August 2025 die „Public Safety Emergency“ auszurufen und damit eine föderale Sicherheitsintervention zu rechtfertigen, hat eine neue Eskalationsstufe in der amerikanischen Innenpolitik erreicht. Rund 2’200 Nationalgardisten aus sieben Bundesstaaten wurden unter sogenannten Title-32-Orders aktiviert – ein rechtlicher Rahmen, der ihnen erlaubt, lokale Polizeiarbeit zu unterstützen, ohne diese formal in den aktiven Bundesdienst zu übernehmen.

Waffen in der Hauptstadt

Der Schritt, die Nationalgarde in Washington nicht nur sichtbar, sondern auch schussbereit einzusetzen, markiert einen Wendepunkt. Offiziell sollen die Soldaten ihre Waffen nur im äußersten Notfall nutzen – etwa, um unmittelbare Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Festnahmen dürfen sie nicht durchführen, wohl aber Verdächtige festhalten, bis die Polizei übernimmt. Gleichwohl hat allein die Präsenz bewaffneter Truppen im öffentlichen Raum eine erhebliche Symbolwirkung. Laut einer Umfrage der Washington Post und der Schar School lehnen 80 Prozent der Hauptstadtbevölkerung die Übernahme der Polizeiarbeit durch Bundesagenten entschieden ab.

Konflikt um Autonomie und Föderalismus

Das Kernproblem liegt tiefer: Washington, D.C., ist ein Sonderfall im amerikanischen Staatsgefüge. Als Hauptstadt besitzt die Stadt kein volles Selbstverwaltungsrecht wie die anderen US-Bundesstaaten. Der Kongress und der Präsident haben weitreichende Befugnisse, in die städtische Sicherheitspolitik einzugreifen. In der politischen Praxis galt bislang jedoch Zurückhaltung. Die aktuelle Entwicklung wird daher vielfach als Bruch mit einem ungeschriebenen Konsens interpretiert – und als Versuch, durch sichtbare Härte im Umgang mit Kriminalität politische Resonanz zu erzeugen.

Für Trump ist das Terrain vertraut. Schon 2020, inmitten der Proteste nach der Tötung George Floyds, setzte er auf martialische Rhetorik und drohte mit Militäreinsätzen in US-Städten. Damals verhinderten Gouverneure und das Verteidigungsministerium eine umfassende Militarisierung der inneren Sicherheit. Nun hat der Präsident offenkundig die entsprechenden rechtlichen Spielräume gefunden, um sein Vorgehen in Washington zu institutionalisieren.

Eskalationsrisiken und Kritik

Die Kritik an der Bewaffnung der Nationalgarde ist breit gefächert. Bürgerrechtsorganisationen warnen, die Maßnahme gefährde das fragile Vertrauen zwischen Bevölkerung und Sicherheitskräften. Bürgermeisterin Muriel Bowser sprach von einer „kolonialen Besetzung“ und verwies darauf, dass die Kriminalitätsstatistiken zwar in einzelnen Bereichen gestiegen seien, insgesamt jedoch im historischen Vergleich nicht außergewöhnlich hoch ausfielen. Sicherheitsanalysten betonen zudem, dass der Einsatz schwer bewaffneter Truppen in urbanem Umfeld das Risiko von Eskalationen und Gewalttätigkiten deutlich erhöhe.

Auch die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit steht im Raum. Kritiker verweisen darauf, dass der Präsident im föderalen System der USA eigentlich keine direkte Zuständigkeit für die Polizeiarbeit in den Städten besitzt. Der Rückgriff auf Title-32-Orders umgeht diese Hürde, indem die Truppen formal im Dienst ihrer Heimatstaaten bleiben, aber durch föderale Mittel finanziert werden. Damit verwischen sich die Grenzen zwischen Bundes- und Lokalgewalt – eine Grauzone, die künftige Konflikte prägen könnte.

Nationale Dimension

Trump hat bereits angekündigt, ähnliche Maßnahmen auch in anderen Städten wie Chicago oder Baltimore in Betracht zu ziehen. Während Republikaner in konservativ regierten Bundesstaaten das Vorgehen unterstützen und teilweise eigene Einheiten entsenden, formiert sich in demokratisch regierten Metropolen Widerstand. Der Bürgermeister von Baltimore warnte, ein Einsatz bewaffneter Nationalgardisten werde „die Lage verschlimmern statt verbessern“.

Die Debatte berührt Grundfragen des amerikanischen Föderalismus und der Gewaltenteilung. Historiker ziehen Parallelen zu den 1960er Jahren, als Präsident Lyndon B. Johnson Nationalgardisten in Städte wie Detroit und Newark entsandte, um schwere Unruhen zu kontrollieren. Während es damals jedoch um akute Aufstände ging, erfolgt der aktuelle Einsatz präventiv – eine Ausweitung der Exekutivmacht, die rechtlich wie politisch umstritten ist.

Am Ende steht Washington erneut als Laboratorium amerikanischer Demokratie im Fokus. Die Frage, ob Sicherheit durch militärische Präsenz gestärkt oder untergraben wird, spiegelt die tiefen politischen Bruchlinien des Landes. Zwischen föderaler Macht und lokaler Autonomie, zwischen öffentlicher Sicherheit und bürgerlichen Freiheiten, wird in diesen Tagen ein Konflikt sichtbar, der weit über die Grenzen der Hauptstadt hinausweist.

Von Andreas Brucker

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