Tag & Nacht


An einem Wintermorgen in Biscarrosse klingt das Meer anders als früher. Tiefer. Ungeduldiger. Wer am Rand der Düne steht, spürt es sofort. Der Sand unter den Füßen wirkt brüchig, fast beleidigt, als wolle er sagen: Ich halte das nicht mehr lange aus. Und tatsächlich – die Atlantikküste frisst sich hier jedes Jahr ein Stück weiter ins Land hinein.

Manchmal schleichend.
Manchmal brutal.

Die Gemeinde in den Landes erlebt gerade eine dieser brutalen Phasen. Starke Gezeiten, aufgewühlte See, Wochen voller Sturm und Gischt. Das Ergebnis: Teile des zentralen Strandes bleiben gesperrt, Zugänge verschwinden hinter Bauzäunen, Warnschilder flattern im Wind. Wer zu nah herangeht, riskiert mehr als nasse Füße.

Die Düne ist keine sanfte Kurve mehr. Sie gleicht einer bröselnden Wand.




„Die Leute unterschätzen das“, sagt eine Anwohnerin, während sie den Kopf schüttelt.
„Manche steigen trotzdem runter.“

Unten wartet ein Loch. Vier, fünf Meter tief. Wie ein plötzliches Ende. Wer einmal dort steht, merkt schnell: Zurück geht nicht so leicht. Der Sand rutscht, gibt nach, zieht einen zurück. Ein falscher Schritt, und der Spaziergang verwandelt sich in eine gefährliche Kletterpartie.

Warum tun Menschen sich das an?
Weil das Meer lockt.
Weil Urlaub naht.
Weil Warnungen oft leiser klingen als Wellen.


Kurz vor Weihnachten wächst die Sorge. Familien, Spaziergänger, Surfer – sie alle zieht es selbst im Winter an den Strand. Doch genau jetzt wirkt er wie ein Ort, der sich wehrt. Die Stadt reagiert. Die wichtigsten Zugänge zur zentralen Strandzone bleiben bis auf Weiteres geschlossen. Seitliche Wege existieren noch, aber wer unten entlang der Sandwand spaziert, spielt mit dem Risiko.

Die stellvertretende Bürgermeisterin Nathalie Banquet formuliert es nüchtern, fast sachlich. Je nach Tide bleibe kaum Platz zwischen Wasser und Düne. Bei Flut eigne sich der Strand schlicht nicht zum Spazieren. Punkt.

Doch hinter diesen Worten steckt Anspannung. Und Verantwortung.


Jeden Winter verliert Biscarrosse bis zu 25 Meter Küstenlinie.
25 Meter.

Man muss diese Zahl langsam lesen, um ihre Wucht zu begreifen. Häuser, die vor Jahren noch sicher standen, blicken heute direkt in die Tiefe. Besonders symbolträchtig: zwei identische Wohnhäuser, dicht nebeneinander, wie Geschwister. Noch stehen sie. Aber niemand wettet mehr auf ihre Zukunft.

„Wir sehen das seit Jahren“, erzählt ein Bewohner beim Abendspaziergang.
„Die See nagt. Immer weiter.“

Gestern habe man nachgeschaut. Die Häuser stünden noch.
Aber wie lange noch?

Diese Frage hängt über der Gemeinde wie eine schwere Wolke.


Dabei kämpft Biscarrosse längst. Jedes Jahr rollen Lastwagen an. Rund 100.000 Kubikmeter Sand landen auf dem Strand, künstlich aufgeschüttet, sorgfältig verteilt. Eine gigantische Geste gegen eine noch größere Kraft. Über fünf Jahre investiert die Stadt rund drei Millionen Euro, um die Erosion zu bremsen.

Bremsen.
Nicht stoppen.

Das Meer lässt sich nicht verhandeln. Es akzeptiert keine Haushaltspläne. Es folgt seinem eigenen Rhythmus – einem, der sich durch den Klimawandel weiter beschleunigt.

Und trotzdem: Aufgeben steht nicht zur Debatte.


Denn Biscarrosse lebt vom Strand.
Von Sommern voller Kinderlachen.
Von Surfbrettern im Sonnenuntergang.
Von Cafés, die Sand in den Schuhen verzeihen.

Der Atlantik bringt Gäste. Arbeitsplätze. Identität. Ihn zu verlieren hieße, einen Teil der Seele preiszugeben. Also stemmt sich die Stadt dagegen, mit Technik, mit Geld, mit Hoffnung. Manchmal auch mit Galgenhumor.

„Der Ozean gewinnt immer“, sagt ein älterer Surfer und grinst schief.
„Aber wir geben ihm wenigstens einen ordentlichen Kampf.“


Zwischen den gesperrten Zugängen und den offenen Seitenwegen entsteht eine seltsame Stimmung. Keine Panik, aber Respekt. Die Natur zeigt, dass sie nicht nur Postkartenmotive liefert. Sie fordert Aufmerksamkeit. Und Demut.

Kinder stellen Fragen, Erwachsene suchen Antworten. Manche bleiben stehen, schauen lange aufs Wasser. Andere drehen um. Vielleicht zum ersten Mal.

Was bedeutet Sicherheit an einem Ort, der sich ständig verändert?
Und wie viel Risiko akzeptiert man für ein Stück Freiheit am Meer?


Die Diskussion reicht längst über Biscarrosse hinaus. Küstengemeinden überall in Frankreich beobachten genau, was hier passiert. Heute Biscarrosse, morgen Lacanau, übermorgen weiter südlich. Der Rückzug der Küstenlinie wirkt wie eine stille Kettenreaktion.

Doch hier, zwischen Pinienwald und Ozean, fühlt sich alles besonders persönlich an. Jeder Meter Sand erzählt eine Geschichte. Von vergangenen Sommern. Von verlorenen Picknickplätzen. Von Treppen, die ins Leere führen.

Manchmal reicht ein Sturm, um Erinnerungen zu verschlucken.


Trotz allem bleibt etwas Unerschütterliches. Die Verbundenheit der Menschen mit ihrem Ort. Die Bereitschaft, unbequeme Entscheidungen zu treffen. Strände zu sperren. Warnungen auszusprechen. Auch dann, wenn es wirtschaftlich schmerzt.

Das Meer respektiert keine Saison.
Aber die Gemeinde respektiert das Meer.

Vielleicht liegt genau darin die Chance. Nicht im Sieg über den Atlantik, sondern im klügeren Zusammenleben mit ihm. Mit Abstand. Mit Geduld. Und mit dem Mut, neu zu denken.

Ein Ort am Rand – geografisch und emotional.


Am Abend legt sich das Licht flach über die Düne. Die gesperrten Zugänge wirken plötzlich ruhig, fast friedlich. Der Wind trägt das Rauschen der Wellen bis in die Straßen. Ein Klang, der mahnt und tröstet zugleich.

Biscarrosse bleibt.
Verändert.
Wachsam.

Und noch immer verliebt in sein Meer – trotz allem.

Ein Artikel von M. Legrand

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!