So sieht keine Niederlage aus. So sieht ein Aufbruch aus.
Am Abend des 8. September 2025 wurde in ganz Frankreich gefeiert – mit Sekt, Musik, Schildern und dem Gefühl, gerade Zeitzeuge einer politischen Wende zu sein. Der Anlass? Der Rücktritt von Premierminister François Bayrou nach einer krachenden Niederlage im Parlament.
Was nach trockener Politroutine klingt, wurde von über 11.000 Menschen im ganzen Land als kollektiver Befreiungsschlag inszeniert. Paris, Rennes, Lyon, Grenoble, Le Havre – sie alle erlebten eine Nacht, die wohl in Erinnerung bleiben wird. Nicht wegen Randale oder Krawallen. Sondern wegen Euphorie, Energie – und einer ziemlich klaren Botschaft: So wie bisher geht es nicht weiter.
Champagner statt Tränengas
In Paris strömten Menschen in mehrere Stadtteile, als sei gerade ein EM-Finale gewonnen worden. Auf der Place Gambetta im 20. Arrondissement knallten die Korken. Keine Polizisten, keine Absperrungen, keine Gewalt – stattdessen: Feierstimmung, Trinksprüche, Transparente. „Bye bye Bayrou“ stand da, oder auch: „Le 10/09 on bloque tout“ – eine Kampfansage für den nächsten Akt der Bewegung.
Auch in Lyon, Rennes oder Nantes versammelten sich Hunderte, teilweise mit Musik, oft mit ironischem Unterton. „Ce n’est pas la fin, c’est le début“, stand auf vielen Schildern – „Das ist nicht das Ende, sondern der Anfang“. Doch wovon?
Der Anfang vom Ende – oder der Anfang von etwas Neuem?
Der Rücktritt Bayrous ist mehr als ein politisches Detail. Er ist historisch. Noch nie in der Fünften Republik musste ein Premier nach einem verlorenen Vertrauensvotum abtreten. Mit 364 Gegenstimmen gegen nur 194 Befürworter in der Nationalversammlung war das Ergebnis eindeutig – eine politische Ohrfeige. Für Bayrou, aber auch für Präsident Emmanuel Macron, der ihn ernannt hatte.
Die Reaktionen folgten prompt. Das Rassemblement National fordert sofortige Neuwahlen. La France Insoumise will Macron gleich mit in den Ruhestand schicken. Die Sozialisten und Grünen – vorsichtig, aber offen für Gespräche. Von Koalitionen ist bereits die Rede. Von einer möglichen Cohabitation, einer politischen Zwangsehe mit dem Präsidenten. Frankreich hat schon friedlichere Wochen erlebt.
„Bloquons tout“ – von der Onlineparole zur Protestbewegung
Was wie eine spontane Reaktion aussieht, hat Wurzeln. Und zwar tiefe.
Seit Mai 2025 macht der lose organisierte Zusammenschluss „Bloquons tout“ (Lasst uns alles blockieren) mobil. Entstanden in den sozialen Netzwerken, ganz ohne Parteien, Sprecher oder feste Struktur. Was sie eint: Frust über die soziale Schieflage, Wut über die Sparpläne der Regierung – und der Wunsch nach einer radikalen Neuausrichtung.
Als Bayrou im Sommer das Budget für 2026 vorstellte, war das wie Benzin ins Feuer: Zwei Feiertage sollten gestrichen werden, öffentliche Dienste beschnitten, Renten eingefroren. Für viele war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es folgten Demonstrationen, Streiks – und nun: ein Regierungssturz.
„Le 10/09 on bloque tout“ – was kommt als Nächstes?
Der 8. September war kein Finale. Es war ein Auftakt. Denn am 10. September steht der nächste große Aktionstag bevor. In Avignon ist eine „agora citoyenne“ geplant – eine Art Bürgerversammlung unter freiem Himmel. In Paris laufen Vorbereitungen für mögliche Blockaden. Die Stimmung: angespannt, aber entschlossen.
Der politische Druck ist spürbar. Die Menschen haben genug vom politischen Zickzack, von Reformen, die den Namen nicht verdienen, und von Regierungen, die an den Bedürfnissen der Mehrheit vorbeiregieren. Doch was kann daraus werden?
Ein neues Kapitel? Eine neue Republik – die sechste?
Eine Krise, die Frankreich verändert
François Bayrou ist politisch Geschichte. Aber das System, das ihn hervorgebracht hat, steht weiter auf dem Prüfstand. Wer nun glaubt, dass die Proteste sich damit erledigt hätten, unterschätzt die Dynamik, die sich da gerade entfaltet.
Die Forderungen sind nicht diffus: Steuergerechtigkeit, soziale Sicherheit, demokratische Mitsprache. Das klingt nicht nach Utopie, sondern nach einem Gesellschaftsvertrag, der überfällig ist.
Aber wird die Bewegung „Bloquons tout“ mehr als ein Strohfeuer sein? Oder verhallt der Protest, sobald der nächste Premierminister ernannt ist?
Eine rhetorische Frage, gewiss. Doch die Antwort hängt nicht allein von der Straße ab – sondern auch von der Reaktion der Institutionen.
Die nächsten Tage werden zeigen, ob aus Sektkorken auch Sargnägel für das alte System werden.
Autor: Andreas M. Brucker
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