Tag & Nacht

Gisèle Pélicot, eine Frau, die jahrelang Opfer von Vergewaltigungen durch ihren Ehemann und von ihm arrangierten Fremden wurde, hat Frankreich und die Welt erschüttert. Der Prozess von Mazan gilt als Meilenstein in der Diskussion über sexualisierte Gewalt und könnte langfristig die gesellschaftliche Haltung zu diesen Verbrechen verändern – doch wie nachhaltig ist diese Wirkung?

Der Mut einer Frau als Symbol des Wandels

Gisèle Pélicot hat durch ihren öffentlichen Auftritt eine Welle der Solidarität ausgelöst. „Es ist Zeit, dass wir unsere Sichtweise auf Vergewaltigung ändern“, erklärte sie im Gerichtssaal von Avignon. Ihr Ehemann hatte sie jahrelang unter Drogen gesetzt und Fremden ausgeliefert, die er über das Internet rekrutierte. Diese grausamen Taten wurden nicht hinter verschlossenen Türen verhandelt: Pélicot entschied sich bewusst gegen einen Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um die Thematik in die Mitte der Gesellschaft zu bringen.

Anne-Cécile Mailfert, Präsidentin der Fondation des Femmes, würdigte diese Entscheidung: „Durch ihre Offenheit hat sie gezeigt, dass Vergewaltigung jeden treffen kann – Monsieur und Madame Tout-le-Monde. Die Scham hat das Lager gewechselt.“

Ein Prozess mit Signalwirkung

Feministische Organisationen, Politiker und Aktivistinnen sprechen von einem „Vorher und Nachher Mazan“. Die Schauspielerin Judith Godrèche, Stimme des #MeToo-Movements in Frankreich, nannte den Prozess gar eine „Revolution“. Doch was macht diesen Fall so außergewöhnlich?

Neben den erschütternden Details der Taten und dem Mut von Pélicot, sich öffentlich zu äußern, liegt die Bedeutung auch in der medienwirksamen Inszenierung: Die Bilder von Gisèle Pélicot, die erhobenen Hauptes das Gericht betritt, während die Täter geduckt und mit verhüllten Gesichtern erscheinen, bleiben im kollektiven Gedächtnis.

Rückblick: Lehren aus der Vergangenheit

Vergleiche mit früheren Prozessen zeigen, wie sich die Wahrnehmung von Vergewaltigungen verändert hat. Der Fall von Aix-en-Provence 1978, in dem zwei belgische Touristinnen nach ihrer Vergewaltigung beschimpft und verhöhnt wurden, verdeutlicht, wie weit die Gesellschaft in der Zwischenzeit gekommen ist. Doch Agnès Fichot, die damals junge Anwältin, betont, dass auch der Prozess von Mazan nur ein weiterer Schritt in einem langen Kampf ist. „Es ist ein Erwachen, aber noch kein Sieg.“

Ein Spiegel der Realität

Einer der zentralen Punkte dieses Prozesses ist die Erkenntnis, dass es keinen „typischen“ Vergewaltiger gibt. Die Täter sind oft „ganz gewöhnliche Männer“, die in Situationen der Gelegenheit handeln. Dieser Aspekt zeigt, dass das Problem nicht allein bei pathologischen Persönlichkeiten liegt, sondern tief in gesellschaftlichen Strukturen verwurzelt ist.

Doch was kommt nach diesem „Spiegelbild“? Feministische Stimmen und Expertinnen fordern gesetzliche und politische Konsequenzen. Während Länder wie Spanien nach ähnlichen Fällen ihre Gesetze verschärften – etwa durch die Einführung der ausdrücklichen Zustimmung („Nur ein Ja ist ein Ja“) – steht eine vergleichbare Reform in Frankreich noch aus.

Der Kampf geht weiter

Anne-Cécile Mailfert mahnt jedoch, dass es nicht allein um Gesetzesänderungen geht. „Das wahre Problem liegt in der Gewalt innerhalb von Beziehungen, der Wiederholungstaten und vor allem in der Notwendigkeit, sexuelle Bildung zu fördern.“ Gleichzeitig warnt sie vor konservativen Strömungen, die diese Fortschritte behindern könnten.

Wie schon 1978 ist auch diesmal klar: Der Kampf endet nicht mit einem Urteilsspruch. Die Gesellschaft muss diesen Prozess nutzen, um langfristig Veränderungen herbeizuführen. „Männer müssen Teil dieses Wandels werden“, betont Fichot, „und zwar mehr, als bisher der Fall ist.“

Erinnerung als Verantwortung

Der Prozess von Mazan hat eine Tür geöffnet, durch die die Gesellschaft hindurchgehen muss. Dabei bleibt die Erinnerung an die Frauen, die sich für diesen Fortschritt eingesetzt haben – von Aix bis Mazan – ein zentraler Bestandteil. Wird die Welt morgen anders aussehen? Wahrscheinlich nicht. Aber dieser Prozess hat gezeigt, dass Wandel möglich ist – wenn wir die Lektionen daraus beherzigen und weiter daran arbeiten.


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