Tag & Nacht




Seit Jahrzehnten ist das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich das Fundament der europäischen Integration. Diese bilaterale Partnerschaft, oft symbolisch als „deutsch-französisches Paar“ bezeichnet, ist weit mehr als ein diplomatisches Ritual. Sie ist ein politischer Kraftkern, der Impulse gibt, Krisen kanalisiert und Europa in schwierigen Zeiten zusammenhält. Gerade in einer Phase globaler Umbrüche verdient dieser Motor eine nüchterne Neubewertung – frei von romantischer Überhöhung, aber auch fern jeder resignativen Skepsis.

Die historische Dimension der Beziehung ist nicht zu überschätzen: Aus Feinden wurden Verbündete, aus ideologischer Konfrontation entstand eine konstruktive Arbeitsbeziehung. Die Unterzeichnung des Élysée-Vertrags durch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer im Jahr 1963 war kein Schlussstrich, sondern ein Anfang. Ein politischer Neuanfang, der sich seither in immer neuen Konstellationen behaupten musste – von der Währung über die Verteidigung bis zur Migrationspolitik. Dabei zeigt sich: Entscheidend ist nicht allein der institutionelle Rahmen, sondern die Fähigkeit zur politischen Verständigung zwischen den jeweiligen Führungsduos.

Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt schufen mit dem Europäischen Währungssystem die Grundlage für die spätere Einführung des Euro – nicht aus ideologischer Euphorie, sondern aus ökonomischer Vernunft. François Mitterrand und Helmut Kohl gingen über das Symbolische hinaus: Ihre Geste in Verdun war Ausdruck einer tiefen politischen Überzeugung, dass ohne Verständigung zwischen Paris und Bonn kein geeintes Europa denkbar ist. Jacques Chirac und Gerhard Schröder widersetzten sich 2003 dem Irak-Krieg – eine seltene deutsch-französische Allianz gegen den Mainstream transatlantischer Politik. In der Finanzkrise traten Nicolas Sarkozy und Angela Merkel als Antipoden auf – doch auch ihre Spannungen verhinderten nicht, dass Europa wirtschaftlich stabilisiert wurde. Diese Ambivalenz gehört zur Wahrheit: Auch funktionierende Partnerschaften kennen Konflikte.

Angela Merkel und François Hollande knüpften pragmatisch an die Tradition an. In der Flüchtlingskrise 2015 zeigten sie, dass Humanität und Ordnung keine Gegensätze sein müssen – jedenfalls dann nicht, wenn sie europäisch koordiniert sind. Emmanuel Macron und Olaf Scholz standen seither vor einer Welt, die grundlegend anders geworden war: Pandemie, Krieg in der Ukraine, Energiekrise, strategischer Druck aus China und den USA. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist hier weder automatisch noch problemlos. Differenzen in der Industriepolitik, bei der Verteidigung oder in der Erweiterungsfrage der EU sind offensichtlich. Doch auch das ist ein Zeichen von Reife: Eine Partnerschaft, die divergierende nationale Interessen offen austrägt, ohne sich aufzulösen, zeigt Stärke – nicht Schwäche.

Europa steht unter Druck – außenpolitisch wie innenpolitisch. Die europäische Idee ist bedroht durch Populismus, geopolitische Fragmentierung und wirtschaftliche Unsicherheiten. In diesem Umfeld ist es keine Folklore, sondern eine strategische Notwendigkeit, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam agieren. Ihre Zusammenarbeit schafft nicht automatisch Konsens, aber sie schafft die Möglichkeit, dass Europa überhaupt handlungsfähig bleibt.

Dazu bedarf es jedoch mehr als gemeinsamer Pressekonferenzen. Es braucht eine gemeinsame Vision, die über technokratische Feinabstimmungen hinausgeht. Die europäische Verteidigung, die Zukunft der EU-Finanzpolitik, der Umgang mit einer möglichen neuen Erweiterungsrunde – all das verlangt politische Führungsstärke. Gerade hier liegt aktuell ein Defizit. Die Beziehung zwischen Macron und Scholz wirkte nicht dysfunktional, aber auch nicht visionär. Man sprach miteinander, aber zu selten miteinander für Europa. Der Geist von Verdun ist nicht tot, aber er braucht politische Nahrung.

Ein Rückfall in nationale Reflexe, wie er in jüngster Zeit vereinzelt zu beobachten ist, wäre gefährlich. Denn kein anderes Duo in Europa verfügt über vergleichbare politische Hebel, um komplexe Kompromisse zu ermöglichen. Weder Italien noch Polen, weder Spanien noch die nordischen Staaten haben in der EU die gleiche strukturelle Stellung. Die deutsch-französische Achse bleibt alternativlos – nicht aus Nostalgie, sondern weil ohne sie die europäische Integration Gefahr läuft, zum Stillstand zu kommen.

Die Herausforderungen unserer Zeit dulden keine strategische Lethargie. Wenn Berlin und Paris ihre Rolle ernst nehmen, kann Europa in einer multipolaren Welt bestehen. Wenn sie sich jedoch in gegenseitigen Vorbehalten erschöpfen, droht dem Kontinent eine Phase der Orientierungslosigkeit. Gerade deshalb ist jetzt der Moment, das deutsch-französische Verhältnis nicht nur zu pflegen, sondern neu zu beleben. Nicht durch neue Verträge, sondern durch politischen Mut zur Führung.

Und das ist die große Aufgabe des neuen Bundeskanzlers Friedrich Merz!

P.T.

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!