Am 8. Dezember wird in Deutschland der Tag der Bildung begangen – eine Gelegenheit, um Erfolge zu feiern, Defizite zu benennen und über die Zukunft des Bildungswesens nachzudenken. Doch jenseits der deutschen Selbstbespiegelung lohnt in diesem Jahr besonders der Blick über die Grenzen: In Frankreich richtet sich gerade unter dem Schlagwort #MeTooÉcole ein dringender Appell an den Präsidenten, um Kinder besser vor sexualisierter Gewalt im Bildungssystem zu schützen. Was dort als zivilgesellschaftlicher Weckruf beginnt, berührt auch zentrale Fragen der Bildungspolitik in Deutschland: Wie sicher sind die Schulen? Wie viel Schutz bieten sie den Schwächsten – und wie offen sind sie für Kritik?
Ein Weckruf aus Frankreich – und eine deutsche Bildung mit toten Winkeln
Frankreichs Bewegung #MeTooÉcole, initiiert von betroffenen Eltern und Lehrkräften, erhebt schwere Vorwürfe gegen das Schulsystem: Warnsignale würden ignoriert, Betreuer nicht konsequent überprüft, und Opfer oft allein gelassen. Die Reaktion auf Missbrauchsfälle sei institutionell zögerlich, mit fatalen Folgen für das Vertrauen der Familien in das Bildungssystem.
In Deutschland gibt es keinen vergleichbaren, breit sichtbaren Aufschrei – doch das bedeutet nicht, dass das Problem dort nicht existiert. Im Gegenteil: Studien der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs(UBSKM) zeigen seit Jahren, dass sexuelle Übergriffe in Schulen, Heimen und Betreuungseinrichtungen auch in Deutschland Realität sind – und häufig nur schleppend aufgearbeitet werden. Laut einer Untersuchung der Universität Ulm (2019) berichten etwa 13 % aller Schülerinnen und Schüler von sexuellen Grenzverletzungen durch schulisches Personal. Dennoch wird die Debatte selten systematisch geführt, meist erst, wenn lokale Skandale Schlagzeilen machen.
Bildung bedeutet auch: institutionelle Verantwortung ernst nehmen
Der französische Appell an Emmanuel Macron fordert unter anderem einheitliche Meldeprotokolle, unabhängige Kontrollgremien und spezialisierte Anlaufstellen für betroffene Kinder. In Deutschland ist der Schutzauftrag zwar gesetzlich klar formuliert (z. B. im Kinderschutzgesetz, § 8a SGB VIII), doch fehlt vielerorts die Umsetzung in der Fläche – insbesondere an Schulen, wo es keine bundesweiten Standards für Kinderschutzkonzepte gibt. Jede Schule, jeder Träger regelt das anders – oder eben gar nicht.
Zwar existieren Programme wie „Schule gegen sexuelle Gewalt“ oder „Trau dich!“, doch sie sind oft auf Pilotphasen begrenzt, freiwillig und unterfinanziert. Hinzu kommt eine verbreitete Rechtsunsicherheit unter Schulleitungen und Lehrkräften, die nicht wissen, wann und wie sie Verdachtsmomente melden dürfen oder müssen. Auch der föderale Flickenteppich im Bildungsbereich erschwert eine einheitliche Strategie.
Der Tag der Bildung – eine Chance zur kritischen Selbstbefragung
Der Tag der Bildung in Deutschland wird traditionell genutzt, um auf Chancengerechtigkeit, Digitalisierung oder Integration hinzuweisen. Doch selten steht die Frage im Mittelpunkt, ob Schulen als Schutzräume tatsächlich funktionieren – oder ob sie mitunter Orte des Schweigens und der Verdrängung sind.
Dabei ist Bildungspolitik ohne Kinderschutz unvollständig. Es genügt nicht, die Lesekompetenz zu stärken oder Schulabbrecherquoten zu senken, wenn zugleich Strukturen bestehen, die Kinder in ihrem körperlichen und psychischen Wohl nicht zuverlässig schützen. Hier könnte Deutschland vom französischen Beispiel lernen – nicht weil Frankreich besser wäre, sondern weil der Druck dort von unten wächst und eine überfällige Debatte ausgelöst hat.
Was jetzt nötig wäre
Ein ernstgemeinter Bildungstag müsste dazu genutzt werden, die blinden Flecken im System offen zu benennen:
- Bundesweite Pflicht zu Kinderschutzkonzepten an Schulen, nicht nur in der Jugendhilfe.
- Verpflichtende Fortbildungen für Lehrkräfte zu sexueller Gewalt, Beobachtung und Traumaerkennung.
- Rechtsklarheit und sichere Meldewege, auch für Schüler, Eltern und pädagogisches Personal.
- Unabhängige Monitoringstellen auf Landesebene zur Überwachung von Fällen und Strukturen.
- Und nicht zuletzt: Ein politischer Wille, der die Schutzpflicht gegenüber Kindern nicht an Verwaltungsgrenzen delegiert.
In Frankreich heißt es: „#MeTooÉcole könnte ein Wendepunkt sein.“ In Deutschland wäre schon viel gewonnen, wenn der Bildungstag mehr wäre als eine symbolische Geste. Bildung darf nicht nur als Chancengeber verstanden werden – sie muss auch ein sicherer Ort sein. Ohne Schutz keine Teilhabe. Ohne Vertrauen keine Bildung. Ohne Aufarbeitung keine Gerechtigkeit.
Von Andreas Brucker
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!









