Die jüngste Armutsstatistik aus Frankreich ist ebenso ernüchternd wie symptomatisch für die strukturellen Defizite des französischen Sozialstaats. Mit einer Quote von 15,4 Prozent erreicht die Armut den höchsten Stand seit 1996. Fast zehn Millionen Menschen leben mit weniger als 1.288 Euro im Monat. Besonders alarmierend ist, dass über ein Fünftel aller Kinder betroffen sind.
Das französische Sozialmodell gilt vielen in Europa als Garant sozialer Kohäsion. Tatsächlich investiert der Staat immense Mittel: Rund 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen jährlich in Sozialleistungen. Kein OECD-Land gibt mehr aus. Ohne diese Transfers wäre die Armutsquote sogar noch um ein Drittel höher. Doch gerade diese Zahl legt den Finger auf die Wunde: Der Staat verhindert durch Umverteilung die schlimmsten Ausprägungen von Armut, schafft es jedoch nicht, sie nachhaltig zu reduzieren.
Die Ursachen sind bekannt. Frankreich leidet unter einer strukturell hohen Arbeitslosigkeit, insbesondere bei Geringqualifizierten. Trotz wachsender Beschäftigung insgesamt stagnieren die Reallöhne im unteren Einkommensbereich. Hinzu kommen rasant gestiegene Lebenshaltungskosten. Die Preise für Lebensmittel haben sich binnen fünf Jahren um über 20 Prozent verteuert. Für Familien mit Kindern, Alleinerziehende oder Haushalte ohne Erwerbseinkommen bedeutet dies einen täglichen Kampf um das Nötigste.
Gleichzeitig zeigt der Blick auf Belgien oder die Niederlande, dass auch Länder mit hoher Steuer- und Sozialleistungsquote deutlich niedrigere Armutsraten erreichen können. Beide Staaten setzen stärker auf die gezielte Integration armutsgefährdeter Gruppen in den Arbeitsmarkt, etwa durch Lohnsubventionen, Weiterbildung und flexible Arbeitszeitmodelle. Frankreich hingegen verteilt umfangreich, ohne die strukturellen Ursachen wirksam zu bekämpfen.
Die Debatte über neue Arbeitsmarktreformen und steuerliche Entlastungen ist daher berechtigt, darf aber nicht von einer grundsätzlichen Frage ablenken: Wie lässt sich ein Sozialstaat reformieren, der immer mehr Ressourcen bindet, ohne seine Kernziele zu erreichen? Präsident Macron hatte bereits 2018 versucht, die Kosten des Sozialmodells zu senken und stärker auf Eigenverantwortung und Beschäftigung zu setzen – nicht zuletzt zur Reduzierung des Staatsdefizits. Doch der Gelbwesten-Protest machte damals deutlich, wie wenig gesellschaftlicher Rückhalt solche Reformen finden, wenn sie nicht mit einem glaubhaften Versprechen sozialer Aufstiegschancen verbunden sind.
Die französische Politik steht vor einer strategischen Weggabelung. Entweder sie belässt es bei punktuellen Anpassungen, die das Problem lediglich verwalten, oder sie wagt eine Reform, die Umverteilung und Eigenverantwortung in ein neues Gleichgewicht bringt. Denn ein Sozialstaat, der Armut nur mildert, aber keine realistischen Wege aus ihr eröffnet, verliert langfristig nicht nur seine ökonomische, sondern auch seine moralische Legitimität.
Von Andreas Brucker
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