Tag & Nacht




Heute ist Welttag der Gletscher. Ein neuer Gedenktag, ein weiteres Datum im Kalender der drohenden Verluste. Er soll daran erinnern, was wir gerade verlieren – still, schmelzend, unaufhaltsam. Für mich ist dieser Tag ein Tag der Trauer. Nicht nur um Eis und Wasser, um Höhenlinien und Gletscherzungen. Es ist eine Trauer um etwas Tieferes, etwas, das sich mit Worten kaum fassen lässt: die Ahnung von Ewigkeit, die in diesen Landschaften lebte. Und nun stirbt.

Ich erinnere mich gut an meine erste Begegnung mit einem Gletscher. Es war nicht nur ein Ausflug, nicht nur ein Blick über eine bläulich-weiße Fläche. Es war das Gefühl, auf etwas zu stehen, das älter ist als jede Geschichte, älter als jedes Bauwerk, älter vielleicht sogar als unsere Vorstellung von Zeit. Es war ein Moment, in dem die Welt still war – und groß. Heute kehre ich zurück in Gedanken, doch der Ort ist nicht mehr derselbe. Der Gletscher ist geschrumpft, zerrissen, abgetrennt vom ewigen Eis.

Was wir verlieren, ist nicht nur ein Naturphänomen. Es ist ein Teil unseres Selbstverständnisses als Spezies. Gletscher waren für uns immer die Grenze – des Machbaren, des Begehbaren, des Begreifbaren. Nun ziehen sie sich zurück, jeden Tag ein paar Zentimeter, manchmal Meter, als wollten sie sich verabschieden von einer Menschheit, die ihnen zu laut, zu heiß, zu gleichgültig geworden ist. Und wir? Wir sehen zu. Schreiben Berichte. Halten Reden. Verordnen Klimaziele, die wir dann wieder relativieren.

Es ist leicht, zynisch zu werden. Leicht zu sagen: Was spielt es für eine Rolle, ob da oben ein paar Millionen Tonnen Eis mehr oder weniger liegen? Doch es spielt eine Rolle. Denn mit dem Eis schmilzt auch unser moralischer Anspruch, diese Welt bewahren zu können. Die Gletscher sind Sensoren des Klimas – sie zeigen uns, was wir tun. Aber sie sind auch Symbole – für Größe, für Geduld, für Widerstandskraft. Und sie verschwinden, weil wir das Gegenteil leben.

Dieser Tag sollte keiner der Mahnung mehr sein. Wir haben genug gemahnt. Genug gezeigt, gemessen, simuliert. Wir wissen, was kommt. Wir sehen es. Es geht nicht mehr um Aufklärung, es geht um Verantwortung. Um Handeln. Um Verzicht. Um Mut. Und vielleicht auch um Demut – etwas, das uns als Gesellschaft weitgehend abhandengekommen ist. Demut vor der Natur, vor dem, was wir nicht ersetzen können. Es gibt keine künstlichen Gletscher. Kein Backup für alpines Süßwasser. Kein Archiv für verlorene Jahrtausende in Eis.

Ich schreibe diesen Text als jemand, der sich ohnmächtig fühlt. Und gleichzeitig verantwortlich. Vielleicht ist das der Zustand, den unsere Zeit von uns verlangt: die eigene Ohnmacht anzunehmen, ohne in Passivität zu verfallen. Es gibt Dinge, die größer sind als wir – aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, alles zu tun, was in unserer Macht steht. Vielleicht retten wir den Gletscher nicht mehr. Aber vielleicht retten wir, was ihn ersetzt: das Wissen um sein Verschwinden und die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann.

Der Welttag der Gletscher ist ein stiller Tag. Und er sollte es bleiben. Keine Konferenzen. Keine Hochglanzplakate. Nur Stille. Und das leise Geräusch von tropfendem Schmelzwasser – wie eine Uhr, die nicht tickt, sondern tropft. Langsam. Regelmäßig. Unerbittlich.

Ein Kommentar von Andreas M. Brucker

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