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Frankreich sieht sich nach den vorgezogenen Parlamentswahlen 2024 mit einem politischen Stillstand konfrontiert. Der ehemalige Élysée-Berater Jacques Attali spricht von „ingouvernable“ – einem unregierbaren Land. Seine Warnung ist nicht bloß eine rhetorische Zuspitzung, sondern Ausdruck einer tiefgreifenden politischen und institutionellen Krise, die Frankreich auch in den kommenden Jahren vor eine Zerreißprobe stellen könnte.

Die Diagnose trifft einen Nerv. Denn jenseits der Tagespolitik stellt sich immer dringlicher die Frage, ob das politische System der Fünften Republik – einst geschaffen, um Stabilität zu garantieren – noch in der Lage ist, ein zunehmend fragmentiertes und polarisiertes Land zu lenken.


Eine institutionelle Architektur unter Druck

Das französische Regierungssystem mit seinem semipräsidentiellen Charakter war historisch darauf ausgelegt, starke Mehrheiten zu erzeugen und Exekutivhandeln zu erleichtern. Doch diese Logik gerät zunehmend ins Wanken. Seit dem Verlust der absoluten Mehrheit von Präsident Emmanuel Macrons Lager bei den Legislativwahlen 2022 und insbesondere nach den Neuwahlen im Sommer 2024 ist die Assemblée nationale in ein Mosaik konkurrierender Fraktionen zerfallen.

Bei den Neuwahlen, die nach der Parlamentsauflösung durch Präsident Macron im Jahr 2024 notwendig wurden, konnte keine der politischen Kräfte – weder das linksgerichtete Bündnis Nouveau Front Populaire noch das rechtsextreme Rassemblement National – eine regierungsfähige Mehrheit erringen. Macron regiert seither de facto mit einer geschäftsführenden Regierung, gestützt auf wechselnde Mehrheiten. Gesetzesvorhaben geraten ins Stocken, Misstrauensanträge und institutionelle Blockaden häufen sich.

Attali konstatiert vor diesem Hintergrund: „Ohne grundlegende Änderungen wird das Land bis 2027 nicht regierbar sein.“ Es sei ein Zustand politischer Paralyse, der mit wachsender gesellschaftlicher Unzufriedenheit einhergeht.


Polarisierung und Vertrauensverlust

Die französische Gesellschaft ist tief gespalten – sozial, kulturell und politisch. Die Gilets-Jaunes-Bewegung, die Rentenproteste und die teils gewaltsamen Auseinandersetzungen nach Polizeieinsätzen in französischen Vorstädten zeugen von einem Vertrauensverlust in den Staat. Laut einer Umfrage des IFOP-Instituts vertrauen nur noch 26 % der Franzosen der Nationalversammlung, und nur 19 % den politischen Parteien.

Jacques Attali sieht darin einen systemischen Erosionsprozess: „Frankreich ist das einzige Land Europas, das seit 250 Jahren alle seine politischen Systeme durch Revolutionen oder Putsche beendet hat.“ Der demokratische Konsens stehe auf dem Spiel. Der Autor und Ökonom fordert daher eine „Transformation der Wut in konstruktive Ungeduld“.

Diese Mahnung trifft auf ein gesellschaftliches Klima, in dem Kompromiss als Schwäche gilt und radikale Positionen medial wie politisch mehr Resonanz erhalten. Die Bereitschaft zum Dialog sinkt, während extreme Kräfte links und rechts weiter an Zustimmung gewinnen.


Frankreich im europäischen Kontext

Die politische Krise Frankreichs hat auch eine europäische Dimension. Als zweitgrößte Volkswirtschaft der EU und zentrale Achse in der deutsch-französischen Partnerschaft kommt Paris eine Schlüsselrolle bei der Fortentwicklung der Union zu. Doch innere Instabilität lähmt die außenpolitische Handlungsfähigkeit.

Während Deutschland – trotz aller Koalitionsstreitigkeiten – eine gewisse Regierungskontinuität wahrt, erscheint Frankreichs Stimme auf europäischer Bühne derzeit leiser. Initiativen zu gemeinsamen Rüstungsprojekten, Energiepolitik oder zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts scheitern oft an nationalen Prioritäten oder innenpolitischer Schwäche.

Attali warnt daher: Ein unregierbares Frankreich könnte zur Hypothek für Europa werden – politisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch.


Ein Plädoyer für institutionelle Erneuerung

Trotz seines pessimistischen Befunds zeigt sich Attali nicht resigniert. In einem Beitrag auf seiner eigenen Plattform (attali.com, Juli 2024) entwirft er einen Katalog von Reformvorschlägen, die Frankreich aus der institutionellen Sackgasse führen könnten:

  • Ein neuer Gesellschaftsvertrag: Attali plädiert für eine breite Debatte über die Rolle des Staates, die Verantwortung der Bürger und die Grenzen der Exekutivmacht.
  • Stärkung parlamentarischer Verfahren: Um die Blockade zu überwinden, brauche es mehr institutionalisierte Konsensmechanismen – etwa nationale Konferenzen oder Bürgerkonvente.
  • Mobilisierung der Zivilgesellschaft: Künstler, Intellektuelle, Gewerkschaften und Unternehmen sollten aktiver in den politischen Diskurs eingebunden werden.

Er appelliert an eine politische Klasse, die den Mut findet, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und langfristige Lösungen zu priorisieren. „Frankreich muss erst wieder lernen, sich selbst zu führen, bevor es andere führen will“, so Attali.


Was als pessimistische Diagnose beginnt, ist letztlich ein Weckruf. Frankreich steht vor einem institutionellen Stresstest, der seine demokratische Resilienz auf die Probe stellt. Die politische Klasse ist gefordert, nicht nur Krisen zu managen, sondern Vertrauen neu zu begründen. Noch bleiben knapp zwei Jahre bis zur Präsidentschaftswahl 2027. Ob sie zum Wendepunkt oder zu einem Kollapsmoment für Frankreich werden, hängt nicht zuletzt vom Mut zur Selbstkorrektur ab.

Autor: P. Tiko

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