Das französische Rentensystem steht am Scheideweg. Es ist ein wenig wie bei einem alten Uhrwerk: Die Zahnräder drehen sich noch, doch das feine Gleichgewicht ist längst gestört. Die jüngste Analyse der Cour des comptes – Frankreichs Rechnungshof – bringt es auf den Punkt: Es mangelt an Fairness. Und die aktuelle Indexierung der Renten auf die Inflation könnte das System langfristig aus dem Takt bringen.
Dabei sollte die Rentenreform von 2023 doch eigentlich für Stabilität sorgen. Sie sollte das System zukunftsfest machen, den Arbeitsmarkt stärken, den Staat entlasten. In der Praxis aber zeigt sich: Nicht alle profitieren gleich. Und genau das wird zum eigentlichen Problem.
Gewinner und Verlierer der Rentenreform
Zwar ist der Beschäftigungsgrad in Frankreich in den letzten Jahren gestiegen – ein Fortschritt, der zweifellos auch den Reformen geschuldet ist. Doch dieser Anstieg ist ungleich verteilt. Während gut ausgebildete Menschen mittleren Alters von der Verlängerung des Arbeitslebens profitieren, geraten andere ins Abseits.
Frauen, Arbeiter und gesundheitlich angeschlagene Personen fallen zunehmend durch das Raster. Für sie bedeutet das spätere Renteneintrittsalter keineswegs mehr Erwerbsjahre, sondern oft mehr Zeit in der Warteschleife – zwischen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Invalidität. Genau diese Phase, die „weder Beruf noch Rente“ bedeutet, wächst bei diesen Gruppen spürbar an.
Das zeigt ein tiefgreifendes strukturelles Problem: Der Arbeitsmarkt ist nicht für alle gleichermaßen zugänglich. Wer körperlich schwer arbeitet, wer familiäre Verpflichtungen stemmen muss oder durch Krankheit eingeschränkt ist, kann das zusätzliche Arbeitsjahr nicht einfach dranhängen wie ein Büromensch mit flexiblen Arbeitszeiten. Klingt hart? Ist es auch.
Die Illusion der langen Karrieren
Auch das Modell der sogenannten „langen Karrieren“ – also der frühzeitige Renteneintritt für jene, die besonders früh ins Berufsleben gestartet sind – hat seine Tücken. Es kommt vor allem denen zugute, die eine mittlere Rente beziehen. Menschen mit sehr niedrigen Renten, aus den ersten vier Dezilen, machen lediglich 13 Prozent der Nutznießer dieses Instruments aus. Was bedeutet das? Die eigentlich Bedürftigsten werden vom System kaum erreicht.
Pierre Moscovici, Präsident der Cour des comptes, bringt eine spannende Idee ins Spiel: den Renteneintritt nicht nur am Alter, sondern an der verbleibenden Lebenszeit danach zu orientieren. Denn laut Statistik leben gutverdienende Führungskräfte im Schnitt zwei bis drei Jahre länger als Arbeiter. Warum also sollten beide Gruppen gleich lang arbeiten müssen, wenn ihre Rentenzeit nicht vergleichbar ist? Eine provokante Frage – aber eine dringend nötige.
Inflation vs. Gehälter – was taugt als Maßstab?
Und dann ist da noch die Sache mit der Indexierung. Aktuell werden französische Renten an die Inflation angepasst – ein Prinzip, das kurzfristig Sicherheit bietet, langfristig aber zu einer gefährlichen Schieflage führen kann. Denn: Wenn die Renten schneller steigen als die Löhne, wird das System immer teurer für die Beitragszahler – also die arbeitende Bevölkerung.
Die Cour des comptes plädiert deshalb für einen Wechsel zur Indexierung an die Lohnentwicklung. Italien und Deutschland machen es bereits vor. Dort orientiert man sich an der wirtschaftlichen Realität – und damit an dem, was die arbeitende Generation auch tatsächlich stemmen kann. Klar ist: Eine solche Anpassung hätte enorme Auswirkungen auf das Gerechtigkeitsempfinden. Doch ohne diesen Schritt droht das System schlichtweg zu kollabieren.
Was bleibt, ist die Frage: Für wen machen wir das alles?
Wenn man sich die Zahlen und Vorschläge ansieht, drängt sich ein Gedanke auf – vielleicht sogar ein bisschen Wut. Warum fällt es so schwer, ein System zu entwickeln, das nicht nur finanzierbar ist, sondern auch gerecht? Warum müssen ausgerechnet die Schwächeren die Hauptlast tragen?
Ein nachhaltiges Rentensystem muss mehr sein als eine Rechenaufgabe. Es muss sozial funktionieren. Es muss den Menschen in den Mittelpunkt stellen, nicht bloß die Budgetvorgaben. Gerechtigkeit bedeutet eben nicht, alle gleich zu behandeln – sondern jeder und jedem das zu geben, was er oder sie tatsächlich braucht.
Frankreich steht vor einer neuen Reformrunde – dem sogenannten „Conclave“, das die Weichen für die Zukunft stellen soll. Möge dieses Mal nicht nur gerechnet, sondern auch hingehört werden.
Denn eins steht fest: Ohne Vertrauen ist selbst das stabilste System irgendwann am Ende.
Von Andreas M. B.
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