Samstagabend, 4. Oktober 2025, Allevard, Département Isère. Eine Mutter fährt mit ihrem Sohn durch das Zentrum der kleinen Alpenstadt. Was sie dann durch die Windschutzscheibe ihres Autos erblickt, lässt ihr den Atem stocken: Ein Wolf. Kein streunender Hund, kein ausgebüxter Husky – ein echter, wilder Wolf. Direkt vor der Grundschule, nahe der Kulturhalle La Pléiade, trottet das Tier seelenruhig über die Hauptstraße. Die Szene: bizarr, fast surreal. Und sie hält sie mit dem Smartphone fest.
Allevard steht unter Schock. Die Bilder verbreiten sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Medien. Ein Wolf – hier, mitten im Ort? Das Video zeigt ein Tier, das nicht aggressiv wirkt, eher orientierungslos. Laut der Fahrerin, die das Tier zweimal sah, wirkte es „verloren“, ehe es schließlich in Richtung der nahen Wälder von Bramefarine verschwand.
Was nach einem Einzelfall klingt, reiht sich in eine wachsende Zahl von Sichtungen ein. Denn der Wolf ist zurück – nicht nur in Frankreichs wilden Gebirgszügen, sondern immer häufiger auch am Rand der Zivilisation.
Rückkehr eines alten Nachbarn
Vor kaum mehr als 30 Jahren galt der Wolf in Frankreich als ausgestorben. Heute leben hier wieder über 1.000 Tiere, vor allem in den Alpen, aber auch im Jura, im Zentralmassiv und zunehmend im Flachland. Die Wiederansiedlung geschah nicht durch gezielte Auswilderung, sondern durch natürliche Rückwanderung – zuerst aus Italien, dann aus osteuropäischen Gebieten.
Der Wolf ist eine geschützte Art. Und er ist ein Überlebenskünstler. Er passt sich an. Und genau das ist der Grund, warum Begegnungen wie in Allevard zunehmen. Wo früher dichter Wald war, ist heute ein Skigebiet. Wo früher Weiden lagen, stehen Ferienhäuser. Der Mensch rückt dem Wildtier auf den Pelz – nicht umgekehrt.
Warum kommt der Wolf in die Stadt?
Es gibt mehrere Erklärungen für solch unerwartete Begegnungen:
Einzelgänger auf der Suche: Junge Wölfe verlassen mit etwa zwei Jahren das elterliche Revier. Sie wandern – teils Hunderte Kilometer – auf der Suche nach einem eigenen Territorium. In dieser Phase irren sie manchmal auch durch Städte oder Dörfer. Ohne Absicht, ohne Aggression – eher wie ein Wanderer, der vom Weg abgekommen ist.
Nahrungsknappheit: In Phasen geringer Beutedichte – etwa bei Rückgang der Wildbestände – können Wölfe sich auch in bewohnte Gebiete wagen, angelockt durch Müll, Nutztiere oder Essensreste. Auch Straßenüberquerungen oder Baustellen zwingen sie manchmal auf Umwege – und mitten hinein in die menschliche Welt.
Verlust von Rückzugsräumen: Die zunehmende Zerschneidung von Lebensräumen durch Straßen, Siedlungen oder Skigebiete engt die Bewegungsfreiheit ein. Wildkorridore – natürliche Verbindungen zwischen Wäldern und Bergzügen – sind oft blockiert. Was bleibt, sind riskante Abkürzungen oder Umwege.
Zwischen Faszination und Furcht
Die Reaktionen auf den „Stadtwolf von Allevard“ zeigen, wie polarisiert die Gesellschaft beim Thema Wolf ist. Viele Menschen empfinden Faszination. Ein solches Tier in freier Wildbahn – gar in urbaner Kulisse – zu erleben, ist für viele ein magischer Moment. Ein Blick in eine andere Welt.
Andere reagieren mit Sorge. Was, wenn Kinder im Garten spielen? Was, wenn der Wolf bleibt, nicht geht? Diese Sorgen sind nicht unbegründet, auch wenn die Statistik bislang beruhigt: Wolfsangriffe auf Menschen sind in Europa extrem selten – meist ist das Tier scheu und meidet den Menschen. Aber die Angst bleibt. Besonders in ländlichen Regionen, wo Weidetiere leben, ist der Wolf längst Symbol eines tieferliegenden Konflikts zwischen Naturschutz, Landwirtschaft und Lebensrealität.
Der schmale Grat der Koexistenz
Frankreich steht, wie viele europäische Länder, vor einer Herausforderung: Wie lassen sich Artenschutz und öffentliche Sicherheit in Einklang bringen?
In Gebieten wie Isère arbeiten lokale Behörden, Naturschutzorganisationen und die „Office français de la biodiversité“ (OFB) eng zusammen. Kameraüberwachung, GPS-Tracking und Meldeplattformen sollen helfen, die Bewegungen einzelner Tiere zu dokumentieren. In besonders sensiblen Regionen werden Informationskampagnen gestartet, um Ängste zu mindern und Wissen zu vermitteln.
Gleichzeitig rufen Umweltverbände zur Gelassenheit auf. Ein Wolf im Ortszentrum ist kein Zeichen für eine „Invasion“, sondern Ausdruck eines fragilen Gleichgewichts. Der Mensch ist nicht alleiniger Akteur im Naturraum – er ist Teil eines komplexen Systems, das gerade wieder ins Lot zu kommen versucht.
Lernen, mit dem Wolf zu leben
Der Vorfall in Allevard ist vielleicht bald vergessen – aber seine Bedeutung reicht weiter. Denn er stellt die wohl wichtigste Frage: Können wir lernen, mit dem Wildtier Wolf zu leben?
Das bedeutet mehr als Zäune und Kameras. Es heißt, alte Ängste zu hinterfragen, kulturelle Mythen zu entwirren, Schutzkonzepte zu modernisieren – und vor allem den Blick zu schärfen für eine Realität, in der Natur und Zivilisation keine Gegensätze mehr sind, sondern Koexistenz wagen.
Vielleicht beginnt diese neue Sichtweise genau dort, wo der Wolf kurz innegehalten hat – auf der Straße zwischen Schule und Kulturzentrum. Ein Tier, verloren zwischen zwei Welten. Und ein Spiegelbild unserer eigenen Unsicherheit im Umgang mit dem Wilden.
Autor: Andreas M. Brucker
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