Tag & Nacht

Am 27. Januar eines jeden Jahres hält die Welt inne. Ein Datum, das nicht einfach nur in den Geschichtsbüchern steht, sondern tief in die kollektive Erinnerung eingebrannt ist. Es markiert den Tag, an dem 1945 die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreite – ein Ort, der zum Sinnbild für das Grauen des Holocaust und die Schrecken des Nationalsozialismus geworden ist. Seit 1996 ist dieser Tag in Deutschland offiziell der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Doch was bedeutet dieses Gedenken eigentlich, und warum ist es so wichtig, es lebendig zu halten?

Gedenken ist mehr als ein Akt der Erinnerung. Es ist ein moralisches Gebot, eine Verpflichtung gegenüber jenen, die ihr Leben verloren – und eine Mahnung an uns Lebende. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden, dazu Sinti und Roma, politische Gegner, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, Zeugen Jehovas und viele andere fielen dem mörderischen System der Nationalsozialisten zum Opfer. Jedes einzelne Schicksal ist ein Stein in einem schier unbegreiflichen Mosaik der Grausamkeit.

Aber seien wir ehrlich: Der Satz „Nie wieder“ ist in Gefahr, zu einer bloßen Floskel zu verkommen. Nicht, weil er falsch wäre – ganz im Gegenteil. Sondern weil wir oft vergessen, dass „Nie wieder“ kein passiver Zustand ist. Es ist eine Forderung, eine Aufgabe, die uns alle betrifft.

Was ist Erinnerung ohne Verantwortung?

Die Antwort auf diese Frage scheint klar zu sein: hohl. Erinnern ist nichts, was man bequem aus der Distanz tun kann. Es braucht aktive Auseinandersetzung, Mut zur Konfrontation und die Bereitschaft, die Lehren der Vergangenheit in den Alltag zu tragen. Historisches Gedenken muss dabei mehr sein als bloße Rituale oder symbolische Gesten – es muss sich in einer Haltung widerspiegeln, die in der Gegenwart verankert ist. Denn was hilft es, Kerzen anzuzünden oder Gedenkreden zu halten, wenn gleichzeitig Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit wieder ihren Platz in unserer Gesellschaft finden?

Ein Blick auf die heutige Zeit zeigt, dass diese Gefahren keineswegs der Vergangenheit angehören. In Deutschland und weltweit erstarken populistische Bewegungen, die Hass und Intoleranz schüren. Antisemitische Übergriffe nehmen zu, und rechtsextreme Ideologien breiten sich in erschreckendem Tempo aus. Die Generation, die die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch aus eigener Erfahrung kennt, wird immer kleiner – und damit wächst die Gefahr, dass das historische Bewusstsein verblasst.

Gleichzeitig sind wir als Gesellschaft mit einer Flut von Desinformationen konfrontiert. In sozialen Netzwerken kursieren Verschwörungstheorien, die den Holocaust leugnen oder verharmlosen. Das zeigt, wie wichtig es ist, die historischen Fakten immer wieder zu vermitteln und vor allem jüngeren Generationen klarzumachen, dass die Vergangenheit auch heute noch Auswirkungen hat.

Geschichten, die sprechen

Manchmal sind es die persönlichen Geschichten, die uns am tiefsten berühren – Geschichten, die den Opfern ein Gesicht und eine Stimme geben. Menschen wie Primo Levi, Elie Wiesel oder Ruth Klüger haben uns durch ihre Erinnerungen mitgenommen an Orte, die wir uns kaum vorstellen können. Ihre Worte – oft mit Schmerz, aber auch mit einer unerschütterlichen Stärke gefüllt – lassen uns begreifen, was unbegreiflich scheint. Sie zeigen, dass hinter den kalten Zahlen echte Leben standen.

Eine Überlebende beschrieb einmal, wie sie sich bei der Befreiung von Auschwitz fühlte: „Es war keine Freude, sondern eine leere Erleichterung. Wir waren frei, ja – aber wozu? Es war niemand mehr da, zu dem wir hätten zurückkehren können.“ Dieser Satz macht sprachlos. Und genau das sollten wir nicht vergessen: Auch nach dem Ende der Lager begann für die Überlebenden oft ein langer, einsamer Weg. Die Narben, die sie trugen, waren nicht nur körperlich – sie waren tief in ihre Seelen gegraben.

Ein Gedenken, das lebt

Wie also können wir dieses Gedenken lebendig halten? In Schulen, Gedenkstätten und durch Medienarbeit wird viel getan, um die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Doch es reicht nicht, Geschichte nur zu lernen – man muss sie fühlen können. Dokumentarfilme, Literatur oder auch Theaterstücke haben die Kraft, Emotionen zu wecken und uns einen Zugang zu dieser Vergangenheit zu verschaffen, der über bloße Fakten hinausgeht.

Dabei darf der Fokus nicht allein auf den Opfern liegen. Auch die Täter, ihre Motive und die Mechanismen, die ein solches Regime möglich gemacht haben, müssen beleuchtet werden. Das ist unangenehm, ja. Aber wer verstehen will, wie Diktaturen entstehen und wie Massenmord gerechtfertigt wird, darf vor diesen Fragen nicht zurückschrecken.

Ein Beispiel für diese Art von Gedenken ist die Arbeit der Stolperstein-Initiative. Kleine, unscheinbare Messingplatten im Gehweg erinnern an die Schicksale von Menschen, die in der Nachbarschaft lebten – und von dort verschleppt wurden. Diese Steine zwingen uns, innezuhalten, uns zu bücken, zu lesen. Sie machen deutlich: Das Grauen war nicht irgendwo, es war hier, direkt vor unserer Haustür.

Was bleibt?

Am Ende ist es die Frage nach der Verantwortung, die uns umtreiben sollte. Haben wir aus der Geschichte gelernt? Schaffen wir es, gegen Hass und Diskriminierung aufzustehen? Und vor allem: Wie geben wir die Erinnerung weiter? Es wäre ein fataler Irrtum zu glauben, dass die Erinnerung an den Holocaust in den Händen der Zeitzeugen alleine liegt. Diese Aufgabe gehört uns allen.

Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus ist keine bloße Pflichtübung – er ist eine Gelegenheit. Eine Gelegenheit, uns selbst zu fragen, was wir tun können, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Denn am Ende geht es nicht nur um die Vergangenheit. Es geht darum, wie wir in der Gegenwart handeln – und welche Zukunft wir gestalten wollen.

Gedenken ist kein Selbstzweck. Es ist ein Schlüssel. Die Frage ist nur: Öffnen wir damit die Türen? Oder lassen wir sie verschlossen?

Es grüßt die Redaktion von Nachrichten.fr!


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