Tag & Nacht




Die bislang schwerwiegendste dokumentierte Gewalttat gegen Journalisten ereignete sich im November 2009 auf der südphilippinischen Insel Mindanao. 32 Medienschaffende, Teil eines Konvois zur Registrierung eines Oppositionskandidaten, wurden Opfer eines politischen Racheakts, der weltweit Entsetzen auslöste. Doch was derzeit im Gazastreifen geschieht, stellt selbst dieses historische Verbrechen in den Schatten: In weniger als einem Jahr sind dort nahezu 200 Journalistinnen und Journalisten ums Leben gekommen – mehr als in jedem anderen modernen Konflikt vergleichbarer Dauer. Die systematische Tötung von Medienvertretern durch israelische Luftangriffe hat eine neue Dimension der Bedrohung für die Pressefreiheit erreicht.


Maguindanao: Ein düsterer Präzedenzfall

Das sogenannte Maguindanao-Massaker offenbarte die tödliche Verbindung aus politischer Gewalt, medialer Verwundbarkeit und staatlicher Ohnmacht. Der Mord an 58 Menschen – darunter ein Drittel Journalisten – war nicht nur der schlimmste Angriff auf die Pressefreiheit in der Geschichte der Philippinen, sondern ein weltweiter Weckruf. Die juristische Aufarbeitung dauerte ein Jahrzehnt. Viele Beteiligte wurden nie verurteilt, Zeugen wurden eingeschüchtert oder ermordet. Der Fall steht bis heute symbolisch für die weltweite Straf- und Machtlosigkeit gegenüber Gewalt an Journalisten.


Gaza: Die tödlichste Zone für Medienarbeit

Eine erschütternde Bilanz

Seit dem Beginn des Gaza-Krieges im Oktober 2023 sind dort beinahe 200 Journalistinnen und Journalisten getötet worden – fast ausschließlich Palästinenser. Diese Zahl übersteigt die Todesopferzahlen aus zwei Jahrzehnten Krieg in Afghanistan, dem Ukraine-Krieg seit 2014 sowie jenen in Syrien und dem Irak. Die Dimension ist beispiellos – sowohl in Tempo als auch in der Menge. Besonders tragisch ist: Die Betroffenen sind oft die einzigen Quellen für Informationen über die Situation vor Ort, da ausländische Pressevertreter von Israel am Zugang zur Enklave gehindert werden.

Angriff auf das Nasser-Krankenhaus

Ein aktuelles Beispiel der Eskalation war ein israelischer Luftschlag auf das Nasser-Krankenhaus in Khan Younis. Zwei Raketen trafen das Gelände in kurzem Abstand – ein sogenannter „Double Tap“-Schlag, bei dem Ersthelfer, Zivilisten und Journalistinnen getötet wurden. Mindestens fünf Medienschaffende starben, darunter Mitarbeiter internationaler Agenturen. Die israelische Armee sprach von einem Angriff auf eine „Hamas-Kamera“ auf dem Gelände – eine Begründung, die angesichts der Opferzahl und der Art des Zielorts heftige internationale Kritik auslöste.

Al Jazeera-Korrespondent als Ziel

Zuvor war einer der bekanntesten Gaza-Korrespondenten, Anas al-Sharif, bei einem gezielten Luftangriff getötet worden – zusammen mit drei Mitgliedern seines Teams. Israel rechtfertigte die Tat mit angeblichen Hamas-Verbindungen, ohne Belege zu liefern. Al Jazeera, Familienangehörige und internationale Beobachter wiesen die Vorwürfe zurück. Bereits Wochen zuvor war gewarnt worden, dass Sharif Ziel einer „militärischen Diffamierungskampagne“ werden könnte.


Zwischen Propaganda und gezielter Ausschaltung

Israels Regierung betont, man nehme zivile Opfer nicht leichtfertig in Kauf, und richte Angriffe ausschließlich gegen militärische Ziele. Doch immer wieder tauchen Aussagen prominenter israelischer Kommentatoren auf, die die Tötung von Journalisten offen begrüßen – als Maßnahme gegen „propagandistische Kriegsführung“. In der Öffentlichkeit scheint ein Klima zu herrschen, das kaum mehr zwischen Hamas-Kämpfern und der Zivilbevölkerung unterscheidet. Laut einer Umfrage glauben über drei Viertel der jüdischen Bevölkerung Israels, dass es „keine Unschuldigen in Gaza“ gebe. Das lässt kaum Raum für Differenzierung.


Der Preis der Berichterstattung

Die Besonderheit des Krieges in Gaza liegt auch darin, dass er unter vollständiger medialer Abschottung von außen stattfindet. Westliche Medien dürfen den Gazastreifen seit Oktober 2023 nicht mehr betreten. Die gesamte Dokumentation des Krieges basiert auf der Arbeit palästinensischer Reporter – mit dem paradoxen Effekt, dass diese sterben, während sie für eine Weltöffentlichkeit arbeiten, die ihnen zugleich Schutz und Anerkennung verweigert.

Mit jedem weiteren getöteten Journalisten sinkt nicht nur die Qualität unabhängiger Berichterstattung, sondern auch die Transparenz über das Geschehen vor Ort. Der Krieg in Gaza ist längst nicht mehr nur ein militärischer Konflikt zwischen Israel und der Hamas. Er ist auch ein Kampf um Deutungshoheit, Wahrheit und Sichtbarkeit. Und dieser Kampf wird auf dem Rücken jener ausgetragen, die in anderen Kriegen als Augenzeugen und Chronisten galten – hier aber selbst zu Zielen werden.


Die Erinnerung an Maguindanao hätte ein warnendes Signal sein können. Doch die beispiellose Zahl getöteter Reporter im Gazastreifen zeigt, dass sich die internationale Gemeinschaft noch immer schwertut, solche Kriegsverbrechen als das zu benennen, was sie sind: gezielte Angriffe auf die freie Information und damit auf ein Grundprinzip jeder demokratischen Ordnung. Wo Wahrheit zum militärischen Ziel wird, steht nicht nur das Leben von Journalisten auf dem Spiel, sondern das Fundament der globalen Öffentlichkeit.

Autor: Andreas M. Brucker

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