Tag & Nacht




Ein junger Mann steht regungslos vor einem Gitter. Hände unten, keine erkennbare Bedrohung, keine Gegenwehr. Dann: ein Schlag ins Gesicht. Hart, gezielt. Kurz darauf ein Spucken – direkt ins Gesicht des Wehrlosen. Die Szene ist schnell vorbei, aber ihre Wucht hallt nach.

Was wie ein Albtraum klingt, ist real. Am 28. August 2025 in Saint-Denis gefilmt, am 5. September veröffentlicht, sorgt das Video für Entsetzen im ganzen Land. Es zeigt einen Polizisten, der offensichtlich die Grenzen seiner Befugnisse weit überschreitet. Die Empörung lässt nicht lange auf sich warten – auf den Straßen, in den sozialen Netzwerken, in den politischen Rängen.

Wenn das Handy zur Anklagebank wird

Die Aufnahmen stammen von einer Anwohnerin. Ein zufälliger Moment, festgehalten auf dem Smartphone, wird zur nationalen Debatte über Macht, Gewalt und Vertrauen. Denn diese Bilder erzählen mehr als nur von einer Eskalation. Sie erzählen von einem Machtgefälle – sichtbar, schmerzhaft, nicht zu übersehen.

Der junge Mann bleibt ruhig. Vielleicht aus Angst. Vielleicht, weil er weiß: Jede Bewegung könnte die Lage weiter eskalieren. Doch selbst seine Ruhe schützt ihn nicht. Die Faust trifft trotzdem. Und der Speichel hinterher.

Ermittlungen? Ja. Konsequenzen? Offen.

Die Justiz reagiert: Die Staatsanwaltschaft leitet ein Verfahren ein. Die Polizei-internen Kontrolleure, die IGPN, werden eingeschaltet. Auch die Pariser Polizeipräfektur eröffnet eine eigene Untersuchung. Auf dem Papier ein entschlossener Schritt.

Doch viele Menschen fragen sich: Wird das wirklich etwas ändern?

Denn die Geschichte ähnelt traurigerweise anderen Fällen, die noch immer nicht vollständig aufgearbeitet sind. Namen wie Michel Zecler oder Théo Luhaka stehen für ähnliche Szenen – Körperverletzungen, Demütigungen, Machtmissbrauch. Und auch für die schleppende Mühlen der Justiz, die nicht selten in Symbolstrafen oder Freisprüchen enden.

Der politische Reflex

Einige Politiker lassen sich vor Ort blicken. Sie sprechen mit dem Opfer, stellen Strafanzeigen, verurteilen das Vorgehen. Worte gibt es viele – mal kämpferisch, mal mahnend. Doch was bleibt, wenn die Kameras wieder verschwinden?

Der Vorfall bringt einmal mehr eine unbequeme Wahrheit ans Licht: Dass nicht jeder Uniformträger mit der nötigen Sorgfalt und Verantwortung handelt. Dass es immer wieder Einzelne gibt, die das Machtgefälle missbrauchen. Und dass das System bisher wenig tut, um genau diese Fälle transparent und konsequent zu ahnden.

Eine Institution unter Beobachtung

Die IGPN – oft als „Polizei der Polizei“ bezeichnet – steht in der Kritik. Ihre Struktur, ihre Nähe zur Exekutive, die geringe Anzahl an tatsächlich ausgesprochenen Sanktionen: All das nährt den Verdacht, dass hier eher gedeckelt als aufgeklärt wird. Zwar werden jedes Jahr Hunderte Fälle gemeldet. Doch nur ein Bruchteil endet mit einer spürbaren Konsequenz.

Die meisten Sanktionen betreffen kleinere Verstöße – Verspätungen, unangemessenes Verhalten, Vermerke in der Akte. Doch bei schwerwiegenden Übergriffen wie jenen in Saint-Denis? Fehlanzeige.

Vertrauen ist kein Selbstläufer

Die Polizei ist auf das Vertrauen der Bevölkerung angewiesen. Doch Vertrauen entsteht nicht durch Uniform, sondern durch Haltung. Durch Respekt, Verhältnismäßigkeit und Integrität.

Wenn Menschen sehen, dass Gewalt durch Amtsträger kaum geahndet wird, wenn Entschuldigungen ausbleiben, wenn Betroffene allein gelassen werden – wie soll dann Vertrauen wachsen?

Eine rhetorische Frage? Vielleicht.

Aber sie verlangt nach Antwort. Nach Taten. Nach struktureller Veränderung.

Und jetzt?

Der Fall Saint-Denis steht erst am Anfang seiner juristischen Aufarbeitung. Was folgt, wird zeigen, wie ernst es die Institutionen meinen. Ob die Verfahren transparent verlaufen. Ob das Opfer geschützt wird. Ob der Beamte zur Rechenschaft gezogen wird – und ob die Öffentlichkeit nicht wieder mit einem Achselzucken abgespeist wird.

Denn eines ist klar: Wer zuschlägt und spuckt, während die Kamera läuft, der handelt nicht im Affekt. Der fühlt sich sicher. Unantastbar. Unbeobachtet.

Doch das Handy hat zugeschaut.

Autor: Andreas M. B.

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