Tag & Nacht


Wendepunkte, Umbrüche und stille Revolutionen

Manchmal scheint ein Tag im Kalender unscheinbar, beinahe zufällig. Doch der 29. Oktober ist einer dieser Tage, an denen Geschichte gleich mehrmals durch das Schlüsselloch späht – und beschließt, einen kräftigen Tritt gegen die Tür zu setzen.

Der Schwarze Dienstag – 1929

New York, 29. Oktober 1929: Menschen drängen sich panisch vor der Börse, Aktienkurse stürzen ins Bodenlose, Existenzen brechen in wenigen Stunden zusammen. Der „Schwarze Dienstag“ markierte den Höhepunkt des Börsencrashs, der die Welt in die Große Depression stürzte. Millionen verloren ihre Arbeit, ganze Industrien kollabierten, und das Vertrauen in den Kapitalismus wankte.

In den Jahren danach entstand ein völlig neues Verhältnis zwischen Staat, Markt und Bürger – etwa durch Franklin D. Roosevelts „New Deal“. Und wenn man ehrlich ist: Die Erinnerung an 1929 begleitet uns bis heute. Wann immer von „Blasen“, „Finanzkrisen“ oder „Überhitzung der Märkte“ die Rede ist, hallt der 29. Oktober leise im Hintergrund nach.

Ein kleiner Gedanke dazu: Könnte es sein, dass jede wirtschaftliche Krise uns ein Stück Demut lehrt – aber nur, bis die Kurse wieder steigen?

1969 – Der erste digitale Funke

Am 29. Oktober 1969 tippte ein Student der UCLA die Buchstaben „L“ und „O“ in seinen Computer ein, um sie an ein anderes Gerät im 500 Kilometer entfernten Stanford zu schicken. Der Rest des Befehls – „LOGIN“ – scheiterte, das System stürzte ab. Und doch war das der Beginn des Internets.

Ironisch, oder? Ein Systemfehler als Geburtsstunde einer globalen Revolution. Heute vernetzt uns dieses „Fehlversuch-Projekt“ über Kontinente hinweg, verändert Politik, Liebe, Arbeit – schlicht alles. Dass dieser Moment an einem Dienstagabend stattfand, zeigt: Geschichte passiert nicht immer im Rampenlicht, manchmal tippt sie nur ein paar Buchstaben und verändert die Welt.

1956 – Die Suezkrise

Zur selben Zeit, nur ein Jahrzehnt früher, war der 29. Oktober ein Tag, der die Machtbalance der Nachkriegszeit erschütterte. Israelische Truppen marschierten auf ägyptischem Boden ein – der Beginn der Suezkrise. Frankreich und Großbritannien schlossen sich an, um die Kontrolle über den Kanal zu sichern, den Ägyptens Präsident Nasser zuvor verstaatlicht hatte.

Das Abenteuer endete in einem diplomatischen Fiasko. Die USA und die Sowjetunion zwangen die europäischen Mächte zum Rückzug. Der 29. Oktober 1956 markierte das faktische Ende kolonialer Allmachtsfantasien. Frankreich musste lernen, dass seine globale Rolle schrumpfte – ein schmerzlicher, aber notwendiger Lernprozess, der das Land auf den Weg zu einer neuen, europäischen Identität führte.

1923 – Republikgründung in der Türkei

Nicht zu vergessen: Ebenfalls an einem 29. Oktober, im Jahr 1923, rief Mustafa Kemal Atatürk in Ankara die Republik Türkei aus. Ein epochaler Bruch mit dem Osmanischen Reich, verbunden mit radikalen Reformen in Politik, Recht und Gesellschaft. Frauenrechte, Alphabetreform, Laizismus – all das nahm hier seinen Anfang.

Frankreich blickte damals mit gemischten Gefühlen auf den anatolischen Umbruch. Einerseits bewunderte man den modernen Geist Atatürks, andererseits misstraute man der neuen Selbstbehauptung eines ehemaligen Gegners. Heute – über ein Jahrhundert später – zeigt sich, wie tief dieser 29. Oktober in der türkischen Identität verwurzelt ist: Er ist Nationalfeiertag.

1959 – Frankreich und der neue Kurs unter de Gaulle

Ein weiterer 29. Oktober, diesmal 1959: Präsident Charles de Gaulle verkündet in Paris die „Politique d’autodétermination“ für Algerien. Zum ersten Mal stellt ein französischer Staatschef offen in Aussicht, dass Algerien selbst über seine Zukunft entscheiden könnte – ein Wendepunkt im blutigen Unabhängigkeitskrieg.

Diese Rede war keine Kapitulation, sondern der Beginn eines pragmatischen Neuanfangs. Frankreich stand am Rand eines moralischen und politischen Abgrunds. De Gaulle wählte nicht den Stolz, sondern die Vernunft. Aus heutiger Sicht war das der Moment, in dem Frankreich begann, sein koloniales Erbe offen zu verhandeln – eine Aufgabe, die bis heute nachwirkt.

Und heute?

Wenn man die Ereignisse des 29. Oktober nebeneinanderlegt, ergibt sich ein spannendes Muster: Krisen, Neuanfänge, technische Revolutionen. Der Tag zieht sich wie ein unsichtbarer Faden durch die Geschichte, ein Tag der Brüche und Aufbrüche.

Vom Zusammenbruch der Märkte bis zum Aufbruch in die digitale Welt, vom Ende alter Imperien bis zum Beginn neuer Republiken – all diese Geschichten erzählen von der Fähigkeit der Menschheit, aus Chaos Neues zu schaffen.

Vielleicht ist das die eigentliche Lehre des 29. Oktobers: Jeder Zusammenbruch birgt den Keim eines Neubeginns.

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