Seit dem Beginn der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen im Oktober 2023 hat sich die humanitäre Lage dramatisch zugespitzt. Internationale Organisationen und zahlreiche Staaten beobachten mit zunehmender Besorgnis die Eskalation der Gewalt und den vollständigen Kollaps der zivilen Infrastruktur in dem dicht besiedelten Küstenstreifen. Die Konsequenz ist nicht nur eine tiefgreifende humanitäre Katastrophe, sondern auch eine spürbare Verschiebung in der globalen Diplomatie gegenüber dem Staat Israel.
Ein Versorgungsengpass mit politischen Folgen
Am 20. Mai 2025 erreichten bisher lediglich neun Lastwagen mit Hilfsgütern den Gazastreifen – ein winziger Tropfen auf den heißen Stein angesichts des geschätzten Bedarfs von 500 Lkw pro Tag, um die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Der weitreichende israelische Belagerungsring und die fast vollständige Abriegelung des Territoriums haben zu einer weit verbreiteten Hungersnot geführt. Hilfsorganisationen schlagen Alarm, weil medizinische Versorgung, Nahrungsmittel und sauberes Wasser kaum noch verfügbar sind. Die strukturelle Blockade, die als Mittel zur Bekämpfung des bewaffneten Flügels der Hamas gedacht war, trifft in der Realität die Zivilbevölkerung mit voller Wucht.
Zunehmender Druck durch traditionelle Verbündete
Was sich abzeichnet, ist ein diplomatischer Erosionsprozess. Staaten, die Israel traditionell eng verbunden sind – etwa das Vereinigte Königreich, Frankreich oder Kanada – zeigen eine nie dagewesene Deutlichkeit in ihrer Kritik. Sie fordern ein sofortiges Ende der Militäroffensive sowie einen garantierten Zugang für humanitäre Hilfslieferungen. Gleichzeitig werden erstmals konkrete politische und wirtschaftliche Sanktionen diskutiert, sollte Israel keine Kursänderung einleiten.
Europa sendet ein neues Signal
Ein Wendepunkt in der europäischen Diplomatie war die offizielle Anerkennung Palästinas durch Spanien, Irland und Norwegen im Frühjahr 2024. Dieser Schritt markiert nicht nur eine symbolische Aufwertung der palästinensischen Autonomiebestrebungen, sondern auch eine bewusste Abkehr von der bisherigen Einseitigkeit westlicher Nahostpolitik. Es ist ein deutliches Zeichen dafür, dass der Geduldsfaden gegenüber der israelischen Regierungspolitik zunehmend reißt. Die Anerkennungen könnten weiteren Staaten als Modell dienen und dem diplomatischen Gewicht der palästinensischen Seite neuen Auftrieb verleihen.
Juristische Fronten: Das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof
Parallel zur diplomatischen Entwicklung läuft ein brisantes Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof. Südafrika hat Israel im Rahmen der Genozidkonvention verklagt und schwere Vorwürfe erhoben. Weitere Staaten, darunter auch aus Europa und Lateinamerika, haben ihre Unterstützung für das Verfahren signalisiert. Obwohl ein abschließendes Urteil noch Jahre auf sich warten lassen dürfte, ist allein das Verfahren selbst ein schwerwiegender Schlag für Israels Ansehen in der internationalen Gemeinschaft.
Innere Spannungen und Kritik aus den eigenen Reihen
Der außenpolitische Druck bleibt nicht ohne Wirkung auf die israelische Innenpolitik. Während Premierminister Benjamin Netanjahu die Militäroffensive als legitime Selbstverteidigung bezeichnet und jegliche Vorwürfe internationaler Rechtsverletzungen zurückweist, formiert sich auch innerhalb Israels Widerstand. Besonders bemerkenswert sind die Äußerungen ehemaliger hochrangiger Militärs, die vor der Gefahr warnen, Israel könne sich dauerhaft in die Rolle eines isolierten „Paria-Staates“ manövrieren. Der ehemalige General Yair Golan sprach sogar von einem moralischen Abstieg, der weitreichende sicherheitspolitische Folgen nach sich ziehen könne.
Ein diplomatisches Momentum mit ungewissem Ausgang
Die gegenwärtige Dynamik stellt Israel vor ein strategisches Dilemma: Je länger die militärische Eskalation anhält und je weniger Bereitschaft zur politischen Lösung signalisiert wird, desto größer wird der außenpolitische Preis. Das bisherige Kalkül – sicherheitspolitisches Vorgehen gegen militante Gruppen bei gleichzeitigem Festhalten an internationalen Partnerschaften – scheint aus dem Gleichgewicht geraten zu sein.
Ohne glaubwürdige Schritte zur Beendigung der humanitären Krise in Gaza und zur Wiederbelebung eines politischen Prozesses droht eine nachhaltige Destabilisierung der israelischen Außenbeziehungen. Die Anerkennung Palästinas, das Verfahren vor dem IGH und die Debatte um Sanktionen sind keine isolierten Episoden, sondern Symptome eines tiefergehenden Wandels im internationalen Umgang mit dem Nahostkonflikt.
Von Andreas Brucker
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