Die Macht des Präsidenten
Artikel 12 der französischen Verfassung verleiht dem Präsidenten das Recht, die Nationalversammlung aufzulösen. Diese Macht ist einzigartig, denn nur der Präsident verfügt über dieses Privileg.
Ein historischer Schritt
„Ich habe beschlossen, Ihnen die Wahl über unsere parlamentarische Zukunft durch Ihre Stimme zurückzugeben. Daher löse ich heute Abend die Nationalversammlung auf“, verkündete Emmanuel Macron am Sonntag, den 9. Juni, nach dem historischen Wahlerfolg des Rassemblement National bei den Europawahlen. Nach Artikel 12 der Verfassung kann der Präsident die Nationalversammlung, jedoch nicht den Senat, auflösen. Dabei muss er den Premierminister, den Präsidenten der Nationalversammlung und den Präsidenten des Senats konsultieren – allerdings nur, um deren Meinung einzuholen. Die endgültige Entscheidung trifft der Präsident alleine. Deshalb wird dieses Machtmittel oft als „präsidiale Waffe“ bezeichnet. Es wird eingesetzt, um eine Krise zu bewältigen, institutionelle Blockaden zu lösen oder um das Vertrauen der Bürger zu testen.
Seltene Anwendung unter der Fünften Republik
Seit Einführung der Fünften Republik wurde dieses Machtinstrument nur sechs Mal eingesetzt. Mit der Auflösung des Parlaments am Montag, dem 10. Juni, endet das Mandat aller Abgeordneten. Der Kalender der Nationalversammlung wird bis nach den nächsten Parlamentswahlen eingefroren, sodass keine Gesetzesvorhaben mehr bearbeitet werden – wie etwa das geplante Gesetz zur Sterbehilfe. Bis dahin kümmert sich die aktuelle Regierung um die laufenden Geschäfte.
Die schnellsten vorgezogenen Wahlen der Geschichte
Gemäß der Verfassung müssen die vorgezogenen Parlamentswahlen innerhalb von 20 bis 40 Tagen nach der Auflösung stattfinden. Emmanuel Macron hat den kürzesten möglichen Zeitraum gewählt: Der erste Wahlgang ist für den 30. Juni angesetzt, also 21 Tage nach der Auflösung. Alle bisherigen Abgeordneten können erneut kandidieren, ebenso wie neue Kandidaten, abhängig von den Nominierungen der jeweiligen Parteien. Es steht also eine blitzartige Wahlkampagne bevor.
Die offizielle Kampagne beginnt am 17. Juni – zwei Wochen vor den Wahlen, wie es das Gesetz vorsieht. Die Kandidaten haben daher nur wenige Tage, um ihre Kandidatur bekannt zu geben.
Ein außergewöhnlicher Fall
Diese Situation ist beispiellos, denn selbst 1968, als De Gaulle inmitten einer Revolte die Nationalversammlung auflöste, waren die Fristen nicht so kurz. Damals lagen zwischen der Auflösung und dem ersten Wahlgang 24 Tage – heute sind es nur 21.
Ein demokratischer Test
Wie oft im Leben kommt es auch in der Politik auf den richtigen Zeitpunkt an. Die Entscheidung zur Auflösung der Nationalversammlung ist nicht nur ein Test der demokratischen Reife, sondern auch ein Signal für das Vertrauen in die Bürger. Wird diese präsidiale Waffe in der gegenwärtigen politischen Landschaft bestehen oder wird sie sich als zweischneidiges Schwert erweisen? Man darf gespannt sein.
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