Sie gab Schimpansen Namen. Sie gab der Natur eine Stimme. Und sie gab uns ein Vermächtnis, das bleibt.
Am 1. Oktober 2025 ist Jane Goodall im Alter von 91 Jahren in Los Angeles gestorben – mitten auf einer Vortragsreise, wie es sinnbildlicher kaum sein könnte. Bis zuletzt war sie unterwegs, um zu sprechen, zu bewegen, zu erinnern. Der Tod dieser bemerkenswerten Frau markiert nicht nur das Ende eines außergewöhnlichen Lebens, sondern auch einen Moment der kollektiven Rückschau: Was bleibt, wenn die Stimme der Natur verstummt?
Eine stille Beobachterin, die laut wurde
Jane Goodall wurde 1934 in London geboren – in eine Welt, die von Männern regiert und von Konventionen begrenzt wurde. Doch schon als Kind war da diese Neugier, dieses stille Staunen über Tiere und ihre Welt. Mit Mitte Zwanzig zog es sie nach Afrika, wo sie 1960 in Tansania ihre Langzeitbeobachtung von Schimpansen begann – ohne akademischen Abschluss, ohne formale Ausbildung. Nur mit einem Fernglas, einem Notizbuch und einem unbeirrbaren Willen.
Sie saß stundenlang im Busch, beobachtete, schrieb mit – und veränderte, was wir über Tiere dachten. Schimpansen, entdeckte sie, benutzen Werkzeuge. Sie haben Emotionen. Sie bilden soziale Strukturen, kennen Freundschaft und Konflikt, Liebe und Verlust. Goodall sprach nicht von „Versuchsobjekten“, sondern von David Greybeard, Flo, Goliath. Sie benannte, wo andere nummerierten – und schenkte uns dadurch neue Augen.
Vom Regenwald ins Weltgeschehen
Doch Jane Goodall blieb nicht im Dschungel. Ab den 1980er Jahren wandelte sie sich von der Forscherin zur Aktivistin. Sie reiste, sprach, forderte. Sie kämpfte gegen Wildtierhandel, gegen die Vernichtung von Lebensräumen, gegen das Verstummen der Artenvielfalt.
1977 gründete sie das Jane Goodall Institute. Es war mehr als eine Stiftung – es war eine Vision. Naturschutz, so glaubte sie, funktioniert nur, wenn man Menschen mitnimmt: lokale Gemeinschaften, junge Generationen, politische Entscheidungsträger. Ihr Bildungsprogramm „Roots & Shoots“ wurde zu einer globalen Bewegung, in der Kinder Bäume pflanzen, Umweltprojekte starten und lernen, dass auch kleine Taten große Kreise ziehen.
Die Macht der leisen Revolution
Jane Goodall war nie laut. Aber sie hatte eine Präsenz, die Räume veränderte. Ihre Stimme – sanft, aber bestimmt. Ihre Sprache – klar, niemals belehrend. Ihre Haltung – immer von Respekt getragen, vor Mensch und Tier.
Und dennoch war sie unbequem. Sie sprach unbeirrt von Verantwortung, von unserer Rolle als Teil, nicht als Herrscher der Natur. Ihr Leben war ein Appell: Seht hin. Hört zu. Handelt.
2025, wenige Monate vor ihrem Tod, erhielt sie die Presidential Medal of Freedom – als Symbol dafür, wie weit ihre Botschaft gereist war. Vom Tanganyika der Sechzigerjahre bis in die politische Bühne der Welt heute.
Was bleibt, wenn sie geht?
Ihr Tod ist ein Verlust. Keine Frage. Aber vielleicht ist es mehr ein Übergang. Denn Jane Goodalls größter Beitrag war nie allein die Wissenschaft. Es war die Idee, dass Veränderung bei uns beginnt – in unserem Blick auf Tiere, auf Umwelt, aufeinander.
Was also bleibt?
Vier Spuren, die ihr Wirken hinterlässt:
1. Empathie als Wissenschaftsprinzip:
Sie zeigte, dass Beobachtung nicht kühl sein muss. Dass auch im Forschen Mitgefühl möglich ist. Ihre Methode war revolutionär – gerade weil sie menschlich war.
2. Naturschutz als Gemeinschaftsaufgabe:
Goodall glaubte nicht an Lösungen von oben. Sie glaubte an Engagement von innen. Ihr Vermächtnis ist partizipativ, inklusiv, dezentral.
3. Eine globale Stimme für das Stumme:
Ob beim Weltwirtschaftsforum oder vor Schüler:innen in ländlichen Schulen – Goodall sprach für die, die selbst keine Stimme haben: Tiere, Pflanzen, Ökosysteme.
4. Ein Netzwerk, das weiterwächst:
Das Jane Goodall Institute lebt weiter. In Afrika, Europa, Asien. Ihr Denken ist kein Monument, sondern ein Samen, der weiter Früchte trägt.
Und jetzt?
Die Frage, die bleibt, ist keine kleine: Wer spricht jetzt für die Natur? Wer füllt die Lücke, wenn ihre Stühle leer bleiben, ihre Sätze verhallen?
Die Antwort liegt womöglich in ihrem eigenen Glaubenssatz: Jeder Mensch kann einen Unterschied machen – jeden Tag.
Sicher beginnt ihr Erbe nicht in Gedenkfeiern, sondern im Alltag. Beim Plastikverzicht. Beim Spaziergang mit offenen Augen. Beim Gespräch mit Kindern über Tiere. Beim Pflanzen eines Baumes.
Denn was Jane Goodall uns gelehrt hat, ist nicht nur Biologie. Es ist eine Haltung. Eine Verbindung. Ein Blick auf das Leben, der leise sagt: Du bist Teil davon. Also kümmere dich.
Autor: Andreas M. Brucker
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