Tag & Nacht


Manche Reden kommen spät – aber wirken dann wie ein Paukenschlag. So auch Joe Bidens erste große öffentliche Ansprache seit der Amtsübernahme durch Donald Trump im Januar 2025. In Chicago trat der ehemalige Präsident auf die Bühne – älter, aber nicht leiser. Und was er sagte, hallt weit über die Grenzen des Saals hinaus.

„Atemberaubend schädlich“ nannte Biden die aktuelle Sozialpolitik der neuen Regierung. Und das war noch eine der diplomatischeren Formulierungen. Mit ungewöhnlicher Schärfe warf der 82-jährige Demokrat seinem Nachfolger vor, die Sozialversicherung zu zerschlagen – unter dem Vorwand, Betrug zu bekämpfen. Dass Trump und seine Verbündeten das System gar als Ponzi-Schema bezeichnen, ließ Biden nicht unkommentiert: „Das ist nicht nur eine Lüge – es ist ein direkter Angriff auf das Rückgrat der amerikanischen Gesellschaft.“

7.000 entlassene Mitarbeiter. Eine abgestürzte Webseite. Verspätete Rentenzahlungen. Für Biden ist klar: Was hier geschieht, trifft nicht „das System“, sondern echte Menschen. Millionen von Amerikanern, die auf den Cent genau auf ihre Sozialversicherungsleistungen angewiesen sind – für Miete, Medikamente, das tägliche Leben.

Doch das Trump-Lager sieht die Dinge anders. Man spricht von Effizienzsteigerung, von Betrugsbekämpfung, von gerechterem Zugang. Und in der Theorie klingt das sogar vernünftig – wäre da nicht der Verdacht, dass diese „Reform“ vor allem dazu dient, Steuergeschenke an Wohlhabende zu finanzieren.

Die Wahrheit liegt wohl – wie so oft – irgendwo dazwischen. Ja, Betrug im Sozialsystem gibt es. Ja, Digitalisierung und schlankere Prozesse sind notwendig. Aber: Wer 100-jährige Leistungsbezieher überprüft, während reiche Unternehmer ihre zu besteuernden Vermögen in Delaware verstecken, setzt ein schädliches Signal. Besonders, wenn der Sozialstaat zur Verhandlungsmasse politischer Ideologie wird.

In diesem Sinne war Bidens Auftritt mehr als eine Rede – es war ein Warnruf. Auch gegen die aufkommende Verachtung für soziale Sicherheit, wie sie von Wirtschaftsgrößen wie Elon Musk oder Handelsminister Howard Lutnick propagiert wird. Wer in der Öffentlichkeit sagt, „die Leute sollen halt sparen, statt sich auf den Staat zu verlassen“, hat offenbar vergessen, dass nicht jeder in SpaceX-Aktien investieren kann.

Politisch ist diese Rede aber noch aus einem anderen Grund bemerkenswert: Biden trat erstmals aus dem selbstgewählten Schatten nach der Amtsübergabe hervor. Nach einem schwachen TV-Auftritt und dem Rückzug von einer erneuten Kandidatur war es still um ihn geworden. Jetzt zeigt er sich wieder kämpferisch – fast schon kampflustig. Mit dem Satz „Ich hätte Trump noch einmal geschlagen“ ließ er keinen Zweifel daran, wie er die Lage einschätzt.

Die Reaktionen darauf? Erwartungsgemäß gespalten. Demokratische Anhänger jubeln über das Comeback des „alten Joe“, während moderate Kräfte fürchten, dass diese Eskalation die Gräben noch vertieft. Doch eines ist unbestritten: Die Sozialversicherung wird zum nächsten großen Konfliktfeld in den USA.

Und dieser Kampf wird nicht nur in Washington geführt – sondern an jedem Küchentisch, an dem gerechnet wird, ob die Rente für den nächsten Monat reicht.

C.H.

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!