299 Opfer. 299 Akten mit unvorstellbaren Details. 299 Schicksale, die durch einen einzigen Mann zerstört wurden: Joël Le Scouarnec, ein ehemaliger Chirurg, der über drei Jahrzehnte hinweg systematisch Kinder missbrauchte.
Am 24. Februar beginnt vor der Strafkammer des Morbihan in Vannes ein viermonatiger Mammutprozess gegen den heute 74-Jährigen. Angeklagt wegen 111 Vergewaltigungen und 189 sexueller Übergriffe – die meisten Opfer minderjährig. Für viele ist es die letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit nach Jahrzehnten des Schweigens.
Die ersten Spuren: Eine kleine Nachbarin bringt den Fall ins Rollen
Manchmal braucht es nur eine einzige mutige Stimme, um das Unvorstellbare ans Licht zu bringen. Im April 2017 erzählt die sechsjährige Lisa (Name geändert) ihren Eltern, dass der Nachbar – ein freundlicher älterer Herr – sich vor ihr entblößt habe. Doch das war nicht alles. Mit kindlichen Worten beschreibt sie eine Tat, die jede Vorstellungskraft sprengt: Der Mann habe sie durch den Gartenzaun hindurch missbraucht.
Lisa ist die erste bekannte Überlebende. Ihre Eltern zeigen den Nachbarn an – seinen Namen kennen sie gut: Joël Le Scouarnec, Chirurg. Wenige Tage später wird er verhaftet und gesteht die Tat. Doch was dann folgt, übersteigt alle Befürchtungen.
Ein geheimes Doppelleben voller Abgründe
Bei der Durchsuchung seines Hauses finden Ermittler tausende kinderpornografische Bilder, verstörende Tagebücher und detaillierte Listen mit Namen. Über 50.000 Fotos und 5.000 Videos dokumentieren sein perverses Doppelleben. Puppen mit Perücken, sadomasochistische Werkzeuge, akribisch geführte Notizen über seine Taten – Le Scouarnec hatte nichts dem Zufall überlassen.
In seinen Tagebüchern beschreibt er, wie er sich in Krankenhäusern systematisch an betäubten oder bewusstlosen Kindern vergeht. „Man muss geduldig sein und auf seine Chance warten“, schreibt er. Seine Aufzeichnungen beginnen oft mit „Meine kleine…“, „Mein Kleiner…“ oder schlicht mit einem Namen, gefolgt von minutiösen Schilderungen seiner Übergriffe.
Zwei digitale Archive enthalten die Namen von rund 200 Kindern. Neben den Namen stehen Alter, Adresse und das Datum der Tat.
30 Jahre lang unentdeckt – wie war das möglich?
Dass ein einziger Mann in mehreren Krankenhäusern jahrzehntelang unbemerkt Kinder missbrauchen konnte, wirft eine zentrale Frage auf: Wer wusste Bescheid – und schwieg?
Le Scouarnec selbst behauptet, seine Ex-Frau habe bereits 1996 von seinen Neigungen gewusst. Sie bestreitet dies. Doch in seinen Notizen schreibt er damals: „Ein Katastrophe – SIE WEISS ES.“
Auch in seiner Familie gab es Verdachtsmomente. Zwei Nichten meldeten Missbrauch durch ihren Onkel, doch eine Anzeige blieb aus. Seine Schwester hörte die Vorwürfe, ging aber nicht zur Polizei.
Noch erschreckender: Seine erste Verurteilung wegen des Besitzes von Kinderpornografie im Jahr 2005 führte lediglich zu einer Bewährungsstrafe – ohne Arbeitsverbot. Ein Jahr später wurde er in Quimperlé sogar befördert, obwohl das Krankenhaus über seine Verurteilung informiert war.
„Wie viele Menschen wussten es und haben ihn trotzdem weitermachen lassen?“, fragt eines seiner Opfer heute. Eine berechtigte Frage, die im Prozess eine zentrale Rolle spielen wird.
Ein Prozess mit historischem Ausmaß
Für viele Opfer ist dieser Prozess der erste Schritt zur Heilung. Menschen wie Amélie Lévêque, heute 42, die mit neun Jahren von Le Scouarnec operiert wurde. Jahrelang konnte sie ihre Ängste und Panikattacken nicht erklären – bis sie 2019 seinen Namen in den Nachrichten las.
„Plötzlich ergab alles Sinn“, sagt sie. „Meine Phobie vor Krankenhäusern, meine Essstörungen, mein zerbrochenes Leben – es lag alles dort verborgen, in diesem Moment, als er mich operierte.“
Guillaume, ein weiteres Opfer, hatte alle Erinnerungen verdrängt. Erst als ihn 2018 Ermittler kontaktierten und ihm Le Scouarnecs Notizen über ihn zeigten, wurde ihm das volle Ausmaß bewusst. „Amnesie schützt nicht vor den Folgen“, sagt er. „Die Wunden bleiben.“
Der anstehende Prozess ist nicht nur ein Kampf um Gerechtigkeit für 299 Opfer. Er ist auch eine Abrechnung mit einem System, das jahrzehntelang weggesehen hat.
Von Catherine H.
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