Es ist eine Szene, die einem den Atem raubt. In der Stadt Verdun – dem Symbol französischer Standhaftigkeit, millionenfachen Leidens und nationaler Erinnerung – findet eine Messe statt. Nicht irgendeine. Sondern eine für Philippe Pétain. Den Mann, der einst als Held des Ersten Weltkriegs gefeiert wurde – und der später, als Chef des Vichy-Regimes, aktiv an der Verfolgung und Deportation von Juden mitwirkte. Verurteilt als Verräter. Und jetzt? Jetzt wird für ihn gebetet. Mitten in Verdun. Ausgerechnet.
Man reibt sich die Augen. Fragt sich: Wie kann das sein? Wie konnte es so weit kommen, dass ausgerechnet in dieser Stadt, die wie kaum ein anderer Ort für Opfer, Widerstand und das Nie‑Wieder steht, ein solcher Akt der Rehabilitierung stattfinden darf? Eine Handvoll Mitglieder eines dubiosen Vereins trifft sich hinter Kirchentüren, feiert eine Messe – geschützt von Polizei, abgeschirmt vor Protestierenden. Und draußen, vor der Tür, ruft eine wütende Menge: „Pas de fachos à Verdun!“ Kein Platz für Faschisten. Schon gar nicht hier.
Doch das reicht offenbar nicht. Das Gericht kassiert das Verbot des Bürgermeisters. Der Staat bleibt still. Die Kirche betet – angeblich unpolitisch. Aber ist ein Gebet für einen verurteilten Kollaborateur wirklich neutral? Kann man für jemanden beten, ohne eine Botschaft zu senden? Ohne eine historische Verantwortung zu unterwandern?
Wem nützt so ein Gebet?
Die Veranstalter sagen: Es gehe um Gedenken. Um spirituelle Würde. Um das Gebet für einen Verstorbenen. Doch wer genau hinhört, merkt schnell: Es geht nicht um Trauer – es geht um Umdeutung. Um eine perfide Form der Geschichtskosmetik. Wenn ein Vereinspräsident behauptet, Pétain habe „mehr Juden gerettet als Hitler deportiert“, dann wird die Linie zur Geschichtsfälschung überschritten. Dann ist es keine Erinnerung mehr – sondern ein Angriff auf die Wahrheit.
Und die Politik? Entsetzt, empört, entrüstet – aber ohne Konsequenzen. Als ob Empörung allein reiche, um den Schaden zu begrenzen. Als ob es nicht schon schlimm genug sei, dass solche Events überhaupt juristisch gedeckt sind. Dass der Rechtsstaat – so stolz wir ihn feiern – in diesem Fall das Falsche schützt: nämlich das Recht, die Vergangenheit zu verzerren.
Verdun ist mehr als ein Ort. Es ist ein Mahnmal. Ein heiliges Gelände des Gedenkens. Und wer diesen Raum für revisionistische Rituale nutzt, der missbraucht die Geschichte. Er zerstört das, wofür Generationen gekämpft haben: die klare Trennung zwischen Widerstand und Kollaboration, zwischen Heldentum und Verrat, zwischen Republik und Unterwerfung.
Dass man das heute noch sagen muss – ist das eigentlich nicht schon der größte Skandal?
Es gibt Dinge, über die man nicht streitet. Dinge, die nicht relativierbar sind. Die Kollaboration mit den Nationalsozialisten gehört dazu. Die Deportation von Kindern gehört dazu. Die Verbeugung vor einer Diktatur gehört dazu. Dass ausgerechnet ein katholisches Gotteshaus – das doch ein Ort der Versöhnung und nicht der Verwirrung sein sollte – hier zum Schauplatz einer symbolischen Provokation wird, ist kaum zu fassen.
Es geht nicht um Pétain. Es geht um uns.
Um unser Verhältnis zur Geschichte. Um unsere Fähigkeit zur Unterscheidung. Um unsere Bereitschaft, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen – oder sie zu verraten. Wenn wir in Verdun Pétain gedenken, gedenken wir dann nicht auch dem, was er repräsentiert? Der Kapitulation? Der Ausgrenzung? Dem Antisemitismus? Oder wollen wir wirklich glauben, dass man all das abtrennen kann – und nur den „alten Soldaten“ ehren?
Verdun ist nicht der Ort für solche Spielchen.
Nicht der Ort für falsche Ausgewogenheit. Nicht der Ort für revisionistische Gesten im Talar. Wer hier Pétain feiert, verlässt den Konsens unserer Republik. Und wer das zulässt, macht sich mitschuldig – an der schleichenden Erosion unserer Erinnerungskultur.
Denn am Ende geht es nicht um gestern. Es geht um morgen.
Darum, ob wir aus der Geschichte wirklich etwas gelernt haben – oder ob wir bereit sind, sie erneut zu verraten.
Ein Kommentar von Daniel Ivers
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