Wieder sind Menschen fast ertrunken. Wieder wird gerettet, gezählt, gemeldet – 94 Migranten in 24 Stunden aus dem Ärmelkanal gefischt. Und morgen? Kommen die nächsten. Wieder wird Europa diskutieren: über Grenzen, Boote, Kontingente. Über Verteilung und Rückführung. Als würde man bei einem Waldbrand die Funken zählen, aber nie die Flammen löschen.
Sind wir wirklich so blind?
Wie oft wollen wir noch überrascht tun, wenn Menschen in See stechen, weil sie keine andere Wahl haben? Niemand setzt sein Kind in ein unsicheres Schlauchboot, wenn das Land unter den Füßen sicher ist. Doch genau diese Binsenweisheit wird verdrängt, weggeschoben – weil es unbequem ist, sie zu Ende zu denken.
Wir reden nicht über das, worauf es wirklich ankommt: die Wurzel des Problems.
Solange Menschen vor Krieg, Elend, Hunger, Korruption, Perspektivlosigkeit fliehen müssen, wird kein Abkommen der Welt, keine Grenzmauer und kein Marineeinsatz das ändern. Migration ist kein Wetterphänomen. Sie ist eine Folge – und wie jede Folge hat sie Ursachen. Wer nur das Symptom bekämpft, wird zum Komplizen der Katastrophe.
Aber wer will das hören?
In Europa herrscht längst moralische Erschöpfung. Die Menschen haben Angst – und viele Politiker schüren sie, statt sie zu lindern. Populismus verkauft sich besser als Solidarität. Die Festung Europa wird immer dichter, die Empathie immer dünner. Die Boote im Ärmelkanal? Für viele nur noch lästige Schlagzeilen. Für andere: ein willkommener Anlass, um Stimmung zu machen.
Und dazwischen: echte Menschen. Mit echten Geschichten. Namenlosen Leidtragenden einer Welt, die lieber über Zahlen als über Schicksale spricht.
Dabei gäbe es Lösungen.
Nicht einfach. Nicht schnell. Aber möglich. Entwicklungszusammenarbeit, gerechter Welthandel, faire Flüchtlingsverfahren, sichere legale Wege. Mehr Druck auf Diktaturen, mehr Hilfe für die Staaten, die Millionen Geflüchtete aufnehmen – Jordanien, Libanon, Tunesien, Kenia. Mehr Menschlichkeit, mehr Klarheit.
Aber dazu braucht es Mut.
Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Mut, das eigene Wohlstandsmodell infrage zu stellen. Mut, Verantwortung zu übernehmen für eine globale Ordnung, die nicht zufällig Menschen aus dem Süden in die Boote zwingt – sondern systematisch.
Wer Migration lösen will, muss an die Wurzel.
Wer nur an der Oberfläche kratzt, zementiert das Elend.
Wir haben keine Zeit mehr für symbolische Abkommen und moralisches Schulterzucken. Jeder Tote auf der Flucht ist auch ein Versagen – unseres Systems, unserer Politik, unserer Haltung.
Entweder wir ändern etwas. Oder wir hören auf, uns zu wundern.
Ein Kommentar von C. Hatty
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!