Wenn in der Nacht des Nationalfeiertags ein Gymnasium in Flammen steht, wenn Jugendliche mit Feuerwerkskörpern auf Polizisten schießen und sich ganze Stadtviertel in Zonen der Gewalt verwandeln, dann ist das mehr als nur ein „Sicherheitsproblem“. Es ist ein Alarmsignal. Ein Schrei. Eine Anklage. Und vor allem: ein Zeichen des Scheiterns.
Denn was sich am 14. Juli 2025 in Frankreich abgespielt hat, ist kein bloßer Ausbruch von Randale. Es ist die brutale Realität eines Staates, der den Draht zu einem Teil seiner Bevölkerung längst verloren hat – oder schlimmer noch: der nie wirklich eine Verbindung hatte. Frankreich brennt nicht, weil es zu wenig Polizei gibt. Es brennt, weil Vertrauen fehlt. Weil Würde fehlt. Weil für viele in den Banlieues der 14. Juli kein Tag der Freiheit ist – sondern einer der Ohnmacht.
Zwei Frankreichs, ein Abgrund
Man muss es klar benennen: Frankreich zerfällt. Nicht geografisch, sondern sozial. Auf der einen Seite das republikanische Frankreich, das sich mit Militärparaden und Präsidentenreden seiner Geschichte rühmt. Auf der anderen Seite das vergessene Frankreich – die Jungen aus Clichy-sous-Bois, aus Trappes, aus Sevran. Sie leben in heruntergekommenen Wohnsilos, in Familien mit Perspektivlosigkeit als Alltag. Sie erleben einen Staat, der nur als Ordnungsmacht erscheint: als Polizei, als Gericht, als Kontrolle.
Wer kann es ihnen verdenken, dass sie diesem Staat nichts mehr schulden? Dass sie ihm nicht vertrauen, ihn nicht achten – weil sie sich von ihm nie geachtet fühlten?
Gewalt ist keine Entschuldigung – aber sie hat eine Geschichte
Es ist zu einfach, in den Ausschreitungen von Paris oder Marseille bloß Gesetzesbrüche zu sehen. Natürlich: Jeder Angriff auf Einsatzkräfte, jede Brandstiftung, jede Gewalt gegen Unbeteiligte ist verwerflich und strafbar. Aber moralische Empörung allein führt zu nichts, wenn man nicht auch die Wurzeln dieser Wut versteht.
Diese Wurzeln reichen tief: bis in die Kolonialgeschichte, in eine Wirtschaft, die Millionen ausgrenzt, in ein Bildungssystem, das soziale Herkunft oft zementiert statt aufhebt. Die Jugendlichen, die in dieser Nacht festgenommen wurden, haben selten das Gefühl, Teil der Republik zu sein. Und warum auch? Welche Chancen bietet ihnen diese Republik? Welche Stimme gibt sie ihnen?
Der Staat antwortet mit Stärke – weil er keine Antworten mehr hat
Dass Innenminister Retailleau nun mit Zahlen prahlt – wie viele Kontrollen, wie viele Festnahmen, wie viele Polizisten mobilisiert wurden – ist bezeichnend. Der französische Staat glaubt offenbar, er könne Legitimität durch Härte ersetzen. Dabei ist diese Härte längst selbst Teil des Problems. Sie verstärkt das Gefühl der Entfremdung. Sie sendet eine klare Botschaft: Ihr seid ein Risiko, kein Teil von uns.
Was Frankreich braucht, ist kein größerer Polizeiapparat. Es braucht ein radikales Umdenken. Es braucht einen Staat, der zuhört, der anerkennt, dass seine Institutionen gescheitert sind – in der Integration, in der Bildung, im sozialen Aufstieg. Und ja: Es braucht den Mut zur Selbstkritik, zur politischen Verantwortung, zur ehrlichen Debatte über strukturellen Rassismus, über Segregation, über Staatsversagen.
Der 14. Juli ist nicht mehr unser aller Fest
Wenn die Republik am Nationalfeiertag gefeiert wird, aber Hunderttausende sich ausgeschlossen fühlen – dann ist dieser Feiertag hohl. Dann ist die Trikolore nur noch ein Symbol der Trennung. Und wenn dieser Staat nicht bald wieder beginnt, Brücken zu bauen – sozial, politisch, menschlich –, dann wird die Gewalt kein Einzelfall bleiben. Sondern die neue Norm.
Frankreich ist an einem Wendepunkt. Entweder wir erkennen endlich die Realität in den Augen der Wütenden – oder wir verlieren sie für immer. Und mit ihnen ein Stück unserer gemeinsamen Zukunft.
Von Andreas Brucker
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