Tag & Nacht




Frankreich liebt den Aufstand. Kaum ein Land in Europa marschiert so regelmäßig auf die Straßen, blockiert so zuverlässig die Bahnhöfe, legt so selbstverständlich das öffentliche Leben lahm. Mal gegen Reformen, mal gegen Kürzungen, mal gegen alles. Die aktuelle Mobilisierung für den 2. Oktober ist da nur die neueste Episode einer endlosen Serie. Doch irgendwann muss man die Frage stellen: Wozu eigentlich?

Wer glaubt, dass man mit Dauerstreit ein Land nach vorne bringt, der verwechselt Lärm mit Leistung. Frankreich hat die Reputation, sich selbst zu sabotieren. Statt Lösungen zu suchen, werden Pflastersteine geworfen. Statt Brücken zu bauen, graben Gewerkschaften immer tiefere Gräben. Das klingt nach Tradition – und ist in Wahrheit pure Selbstblockade.

Natürlich haben Gewerkschaften eine wichtige Rolle. Sie sind Stimme der Arbeitenden, Korrektiv zur Macht. Aber was nützt diese Stimme, wenn sie nur noch brüllt? Wenn jeder Reformversuch sofort mit dem Schlagwort „sozialer Angriff“ quittiert wird? Frankreich wird so zum Land der Nein-Sager. Nein zur Rentenreform. Nein zur Haushaltsdisziplin. Nein zur Modernisierung des Arbeitsmarkts. Aber wo bleibt das Ja?

Die Wahrheit ist unbequem: Ohne Kompromisse gibt es keinen Fortschritt. Wer nur fordert, ohne zu verhandeln, verliert am Ende alles – Glaubwürdigkeit, politische Partner, die Sympathie der Bürgerinnen und Bürger. Und genau das passiert gerade. Viele Menschen schauen längst genervt auf die ständigen Aufrufe zu „historischen Streiks“, die sich am Ende wie eine Endlosschleife anhören.

Sébastien Lecornu mag schwach wirken, das stimmt. Aber die Gewerkschaften machen es sich zu einfach, wenn sie ihn allein für alles verantwortlich machen. Sie tragen selbst Verantwortung – für das Klima im Land, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, für die Frage, ob Kinder und Enkel in einem handlungsfähigen Frankreich leben oder in einem, das sich im Streit verschlissen hat.

Die ewige Konfrontation mag heroisch klingen, sie hat etwas von Revolution und Barrikade. Doch im Jahr 2025 bedeutet sie vor allem eins: Stillstand. Und Stillstand ist das Gegenteil von Fortschritt.

Darum, liebe Gewerkschaftler: Wacht endlich auf! Sucht die Debatte, nicht die Dauerdemonstration. Hört auf, jeden Kompromiss als Niederlage zu brandmarken. Frankreich braucht keine nächste große Blockade – es braucht endlich Luft zum Atmen.

Ein Kommentar von Andreas M. Brucker

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!