Tag & Nacht




Manchmal ist Schweigen lauter als Worte. Und das Schweigen der politischen Führungen dieser Welt angesichts des massenhaften Sterbens in Gaza, im Sudan, im Jemen oder in der Ukraine hallt wie ein moralisches Vakuum durch unsere Zeit. Während Kinder unter Trümmern begraben werden und Ärzte in notdürftig beleuchteten Kellern um Leben kämpfen, streiten Staatsmänner und -frauen über geopolitische Interessen, über Einflusszonen, über ihre nächste Wahl. Die große Frage aber bleibt unbeantwortet: Wo bleibt das humanitäre Denken, ihr Politiker der Neuzeit?

Das Versagen der Empathie

Die politische Sprache ist voll von „roten Linien“, „Sicherheitsinteressen“ und „strategischen Notwendigkeiten“. Doch Worte wie Barmherzigkeit, Mitgefühl oder Menschlichkeit scheinen aus dem Vokabular verschwunden. Wer heute humanitäre Prinzipien verteidigt, wirkt naiv, beinahe altmodisch – als hätte Mitleid keinen Platz mehr in den Sitzungen der Macht. Stattdessen sehen wir eine Politik, die Menschenleben in die Kosten-Nutzen-Rechnung ihrer Kriegs- und Außenpolitik einpreist. Das Ergebnis: tote Helfer, bombardierte Krankenhäuser, ausgehungerte Familien.

Gaza als Spiegelbild des Zynismus

Gaza ist längst mehr als ein Konfliktherd – es ist ein Mahnmal für den Zerfall moralischer Maßstäbe. Wer dort schweigt, stimmt der Entrechtung einer ganzen Bevölkerung zu. Und wer dort seine Stimme erhebt, wird allzu schnell zum Spielball ideologischer Grabenkämpfe. Doch es geht nicht um Parteipolitik, nicht um geopolitische Kalküle. Es geht um die schlichte Frage: Wie viele Kinder müssen noch sterben, bevor Empathie Vorrang erhält vor Machtkalkül?

Die neue Kälte der Weltpolitik

Auch im Sudan, im Jemen, in der Ukraine wiederholt sich dasselbe Muster. Politiker beklagen in Pressekonferenzen die „humanitäre Lage“, während ihre Diplomaten Waffenlieferungen aushandeln oder Sanktionen taktisch dosieren. Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Empörung und tatsächlichem Handeln ist so eklatant, dass sie nur als zynisch bezeichnet werden kann. Humanitäres Denken ist nicht abhandengekommen, es wird bewusst beiseitegeschoben – weil es stört, weil es den nüchternen „Realismus“ der Machtpolitik in Frage stellt.

Menschlichkeit als politische Pflicht

Es ist an der Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen: Wer humanitäre Prinzipien relativiert, wer Kriegsverbrechen beschönigt, wer Hilfslieferungen behindert oder dieses duldet, stellt sich außerhalb der Wertegemeinschaft, auf die er sich sonst so gern beruft. Humanität ist kein Luxus für Friedenszeiten, sie ist die Grundbedingung jeder politischen Legitimität. Und sie ist messbar – an der Bereitschaft, Leben zu retten, statt Opferzahlen als „Kollateralschaden“ zu verbuchen.

Die Helferinnen und Helfer, die Tag für Tag in zerstörten Städten und Flüchtlingslagern ihr Leben riskieren, sind das lebendige Gegenbild zu dieser politischen Kälte. Sie beweisen, dass Menschlichkeit kein naiver Traum, sondern eine konkrete Handlung ist. Ihnen gehört der Welttag der humanitären Hilfe – und nicht den Politikern, die schöne Reden halten und zugleich die Grundlagen eben dieser Hilfe untergraben.

Die Frage bleibt deshalb dringlich, bohrend und unbequem: Wo bleibt das humanitäre Denken, ihr Politiker der Neuzeit? Wer sie nicht beantworten kann, sollte den Anspruch auf moralische Führung vielleicht endgültig aufgeben.

Ein Kommentar von Andreas M. Brucker

Neues E-Book bei Nachrichten.fr







Du möchtest immer die neuesten Nachrichten aus Frankreich?
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!