Tag & Nacht


Es endete heute vor 56 Jahren: Drei Tage Musik, Ekstase – und Schlamm. Woodstock 1969 ist längst zur Legende verklärt. Ein Festival, das in der kollektiven Erinnerung als leuchtender Höhepunkt einer freiheitsdurstigen Generation weiterlebt. Doch hinter den Gitarrenriffs von Jimi Hendrix, den Marihuana geschwängerten Wiesen und den Parolen von „Love, Peace & Happiness“ verbirgt sich auch eine unbequeme Wahrheit: Die große Utopie von Frieden und Freiheit blieb unerfüllt.

Natürlich – Hendrix, Janis Joplin, The Who: Diese Musik veränderte eine Ära. Sie wurde zum akustischen Manifest einer Jugend, die sich gegen Krieg, Rassismus und autoritäre Strukturen auflehnte. Woodstock war in diesem Moment mehr als ein Konzert: ein kollektives „Nein“ zur Gewalt, ein „Ja“ zur Hoffnung. Ein symbolischer Gegenentwurf zur Eskalation in Vietnam und zur politischen Erstarrung im Westen.

Doch was kam danach? Der Krieg in Südostasien zog sich hin, die Toten wurden immer mehr. Die Hippie-Bewegung zerfiel – erst in Kommerz, dann in Chaos. Die kapitalistische Verwertungslogik machte vor keinem Symbol Halt: Jeans, einst Uniform der Rebellion, avancierten zu Designerware. Das Peace-Zeichen wurde zum Deko-Motiv für Coffee-to-go-Becher. Die Ästhetik der Rebellion überlebte – entkernt und vermarktet.

Gerade darin liegt die Ambivalenz von Woodstock: Es war ein Moment intensiver Schönheit – und doch auch eine Illusion. Eine Vision ohne Wegskizze, ein Protest ohne politisches Fundament. Die Forderung nach Frieden blieb abstrakt, untermalt von Musik, aber ohne strukturelle Strategie. Keine institutionellen Impulse, keine nachhaltigen Netzwerke, keine politische Schlagkraft.

Man könnte sagen: Woodstock war die erste große „Schlammschlacht der Utopien“. Ein emotionales Hochamt kollektiver Hoffnung – das im Morast der Realität versank. Der Traum von einer besseren Welt wurde zum Festivalerlebnis, nicht zur gesellschaftlichen Umwälzung.

Und heute – eine ganze Generation später? Hendrix’ verzerrte Gitarre klingt noch immer wie ein Schrei gegen die Ungerechtigkeit. Aber was blieb von diesem Schrei? Hat er Mauern eingerissen – oder ist er im Echo nostalgischer Verklärung verhallt?

Vielleicht liegt gerade darin die bittere Schönheit von Woodstock: Es zeigt, dass Menschen träumen können – von Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit. Sie können diese Träume singen, tanzen, leben – für einen Moment. Doch es zeigt auch, wie flüchtig solche Träume sind, wenn sie nicht mit Struktur, Strategie und Beharrlichkeit unterfüttert werden. Ohne sie verdampfen selbst die schönsten Visionen – wie Rauch über einem Schlachtfeld aus Schlamm.

Ein Kommentar von Andreas M. Brucker

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