Tag & Nacht




Ein Appell, der nicht verhallen darf.

Kurz vor der dritten UN-Ozeankonferenz (UNOC3) in Nizza – einem Gipfeltreffen, das durchaus das „Paris-Abkommen für die Meere“ hervorbringen könnte – schlagen über 2.000 Wissenschaftler weltweit Alarm. Zum One Ocean Science Congress, organisiert vom CNRS und Ifremer, wurde eine unmissverständliche Botschaft gesendet: Unsere Ozeane stehen am Kipppunkt.

Und was bedeutet das konkret?

Wenn wir jetzt nicht handeln, steuern wir direkt auf eine irreversible Krise zu. Das ist keine Übertreibung, sondern das wissenschaftlich fundierte Ergebnis jahrzehntelanger Forschung. Die Weltmeere – oft romantisiert als geheimnisvolle Tiefen voller Leben – sind nicht nur atemberaubend schön, sie sind der Lebensmotor unseres Planeten. Und dieser Motor stottert gefährlich.


Zehn wissenschaftlich fundierte Maßnahmen, um das Ruder herumzureißen

Zum Kongress in Nizza gibt es zehn zentrale Empfehlungen. Diese sind keine frommen Wünsche oder utopische Ideale, sondern präzise formulierte Leitlinien, die Politik und Gesellschaft sofort umsetzen könnten – wenn sie denn den Mut hätten.

Einige der wichtigsten Punkte:

  • Eine neue Form der Ozean-Governance: Wissenschaft trifft Tradition. Es geht um ein Miteinander von akademischer Forschung und lokalem Erfahrungswissen – etwa das von Küstengemeinschaften, die seit Jahrhunderten mit dem Meer leben. Warum ignorieren wir diese Expertise immer noch so häufig?
  • Klimaschutz durch das Meer: Die gezielte Wiederherstellung von Mangroven und Seegraswiesen speichert nicht nur CO₂, sondern schützt auch Küsten vor Sturmfluten. Eine Win-Win-Lösung – und trotzdem weitgehend vernachlässigt.
  • Keine weiteren Tiefsee-Experimente: Solange wir nicht genau wissen, wie empfindlich die Tiefsee ist, muss die Ausbeutung ihrer Ressourcen ausgesetzt werden. Alles andere wäre nichts als ein Blindflug mit Kurs auf Desaster.
  • Gerechte Verteilung mariner Gewinne: Die genetischen Ressourcen aus dem Meer dürfen nicht nur Industrienationen nutzen. Die Einnahmen müssen allen gehören – vor allem den Ländern, die am meisten unter der Klimakrise leiden.
  • Plastikflut stoppen: Der Ozean ist kein Müllschlucker. Ein sofortiger Rückgang der Einwegplastikproduktion und besseres Abfallmanagement sind längst überfällig.

Weitere Empfehlungen betreffen nachhaltige Fischerei, CO₂-Reduktion im Schiffsverkehr, mehr Schutzgebiete und eine massive Stärkung der transdisziplinären Meeresforschung.


Ein Planet mit Fieber – und das Meer als fiebersenkendes Mittel

Was viele nicht wissen: Die Ozeane puffern rund 30 % des menschengemachten CO₂s ab – und schlucken sogar über 90 % der überschüssigen Wärme. Ohne diese gigantische Wärme- und Kohlenstoffsenke wären unsere Städte längst unbewohnbar geworden. Doch dieser Schutzschild hat seinen Preis: Die Ozeane werden sauer, wärmer und unberechenbarer.

Korallen bleichen großflächig aus, Meeresströmungen verändern sich, Küsten verschwinden – und das in einem Tempo, das größer ist als bei jeder Generation vor uns.

Da stellt sich die Frage: Wie viel Stress verträgt das Meer noch, bevor es kippt?

Zudem bedrohen menschliche Eingriffe die Lebensgrundlage von Millionen Arten – und Milliarden Menschen. Industrielle Fischerei, Plastikmüll, unregulierte Extraktion von Bodenschätzen – was wir dem Meer antun, kommt irgendwann mit doppelter Wucht zurück.


UNOC3 in Nizza: Letzte Chance oder Lippenbekenntnis?

Vom 9. bis 13. Juni 2025 wird Nizza zum Brennpunkt der globalen Meerespolitik. Über 60 Staats- und Regierungschefs sowie Tausende Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft werden erwartet.

Einige der zentralen Ziele der Konferenz:

  • Umsetzung des Hochsee-Biodiversitätsabkommens (BBNJ): 2023 verabschiedet, braucht es mindestens 60 Ratifikationen, um in Kraft zu treten. Die Zeit drängt.
  • 100 Milliarden Dollar für den Ozeanschutz: Klingt nach viel – ist aber im Verhältnis zu den Schäden durch ungebremste Meeresnutzung ein Schnäppchen.
  • Schädliche Fischereisubventionen stoppen: Noch immer fließen jährlich über 20 Milliarden Dollar in Praktiken, die die Überfischung weiter anheizen. Wann hört dieser Wahnsinn endlich auf?
  • Ein europäischer Ozean-Pakt: Mit dem Ziel, besonders zerstörerische Aktivitäten wie Tiefseebergbau und Krillfang in sensiblen Gebieten zu verbieten.

Es steht also einiges auf dem Spiel. Und selbst eingefleischte Diplomaten räumen ein: Wenn bei dieser Konferenz nichts Substanzielles geschieht, verlieren wir eine historische Chance – vielleicht die letzte in diesem Jahrzehnt.


„Entweder wir retten das Meer – oder alles geht baden.“

So drückte es der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, im Vorfeld des Kongresses aus. Klarer kann man es kaum formulieren. Auch François Houllier, Präsident des Ifremer, machte deutlich: Die Wissenschaft ist bereit. Jetzt müssen die politischen Entscheider nachziehen.

Und was ist mit uns? Müssen wir tatenlos zusehen?

Nein. Jeder Mensch, jede Stadt, jede Nation kann einen Beitrag leisten. Von der Müllvermeidung über den Schutz von Küstenökosystemen bis hin zur politischen Einflussnahme: Der Schutz des Meeres beginnt nicht erst bei globalen Gipfeln – sondern bei uns selbst.


Riff statt Wrack: Welche Zukunft wollen wir?

Es ist ein alter Spruch, aber er stimmt: Die Ozeane sind die Lunge unseres Planeten. Wenn sie kollabieren, ist alles andere irrelevant.

Und doch: Hoffnung gibt es. Viele der Lösungen sind längst bekannt – es fehlt vor allem an Mut und Verbindlichkeit.

Die zehn Empfehlungen des One Ocean Science Congress könnten der Rettungsanker sein, nach dem wir so dringend greifen müssen. Aber sie brauchen Rückenwind – aus der Wissenschaft, der Politik, der Zivilgesellschaft. Und ja, auch aus deinem Alltag.

Willst du später sagen: „Ich hab’s kommen sehen – aber nichts getan“?

Oder: „Ich war Teil der Wende“?

Andreas M. Brucker

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